schreibt Fantasy

Habitable Zone – Sternenkind II

Etwas mehr als vier Lichtjahre ist der sonnennächste Stern im Weltall, Proxima Centauri, entfernt. Gegen seine Oberflächentemperatur von rund 3000 Kelvin wirkt die Hitzewelle, die das Gras links und rechts der Fahrbahn in zundertrockenen Büscheln über die Straße wehen lässt, unspektakulär. Sechs Millimeter Glas trennen Hanna von der sengenden Hitze draußen vor dem Fenster und die Klimaanlage hält das Wageninnere konstant bei 21 Grad Celsius.

Es ist ein gutes Auto, das Ralf ihr gekauft hat, ein teures, schnelles Auto, genau der Sportwagen, von dem sie früher geträumt hat. Er soll ihr die Fahrt zur Sternwarte verkürzen. Sie hat schon jahrelang nicht mehr davon gesprochen, natürlich nicht, aber Ralf hat sich ihren Herzenswunsch gemerkt. Um Hanna wieder lächeln zu sehen, ist ihm jeder Preis recht. Er versteht nicht, dass der Wunsch zum Vorher gehört.

Der Lederbezug des Lenkrads fühlt sich glatt und warm an. Ihre Hand würde nicht abrutschen, wenn sie es jetzt herumrisse und den Wagen von der Fahrbahn schleudern ließe. Die Räder würden sich im Straßengraben verkeilen und das Auto in wildem Überschlag über das Stoppelfeld poltern lassen, bis es irgendwo auf dem Dach liegenbliebe. Einen Wimpernschlag lang ist sie versucht, dem Impuls nachzugeben, aber hier gibt es keinen Straßengraben, nur ein sanft auslaufendes Bankett. Sie würde einfach übers Feld rutschen, bis sie mit jagendem Herzen irgendwo zwischen abgeernteten Weizenstoppeln zum Stehen käme. Der Motor liefe immer noch und der Innenraum hätte 21 Grad Celsius.

Proxima Centauri ist ein Roter Zwerg mit nur geringer Fusionsaktivität. Natürlich emittiert er in seiner unmittelbaren Nähe mörderische Strahlung, so wie jeder Stern. Nur ein wenig weiter weg, jedenfalls nach astronomischen Maßstäben, herrschen Temperaturen knapp über dem absoluten Nullpunkt. Dazwischen, ganz nah an dem unscheinbaren kleinen Stern, liegt wie eine dünne Hohlkugel die Habitable Zone, in der theoretisch Wasser und damit Leben existieren könnte. Genau dort kreist ein Planet. Proxima Centauri, diese winzige Sonne in der Gravitationsfalle ihrer größeren Geschwister, hat ein Kind, Proxima Centauri b. Ein Sternenkind.

Der Abstand zwischen den Leitpfosten beträgt 50 Meter, Hannas Abstand zum Vorausfahrenden schon wieder deutlich weniger. Nähe bedeutet Gefahr, auch hier. Ihr Fuß zuckt vom Gaspedal und der Wagen folgt ihr unwillig, als würde er nur zu gern den Vorausfahrenden von der Straße boxen. Selbst die Fahrbahn zu verlassen, weigert er sich, der Spurhalteassistent macht Hannas zaghaftes Experiment augenblicklich zunichte. Ein gutes Auto. Es passt auf sie auf und hält die Hitze draußen, den Abgasgeruch, den Lärm der Bundesstraße. In einer Blase der Stille gleitet sie durch ihr Leben, seit das Vorher endete.

Dicht gepackt zwischen zahllosen Autofahrern stand sie damals an der Ampel, als ihr auffiel, dass etwas nicht stimmte. Den Schreibtisch hatte sie schon beinahe leergeräumt, obwohl der Chef ihr versichert hatte, dass das Büro auch ein ganzes Jahr auf sie warten würde. Die Kollegen sammelten hinter ihrem Rücken für die Erstausstattung und Hanna fragte sich, wie sie ein ganzes Jahr ohne diese Menschen und ohne ihre gemeinsame Arbeit durchstehen sollte.

Damals an der Ampel verblassten diese Fragen wie rote Zwerge hinter einer Supernova. Noch heute sieht sie die Digitalziffern vor sich, die anthrazitfarbenen Balken der LCD-Anzeige. Sieben Doppelpunkt Zwei Vier. Sieben Uhr vierundzwanzig, zwei Drittel des Wegs zur Sternwarte lagen hinter ihr.

Sie bog ab und hielt an. Tastete nach Blut, das nicht kam. Fühlte. Wendete. Die Lüftungsanlage lief auf höchster Stufe und schaffte es nicht, den Schweiß auf Hannas Stirn zu trocknen. Sie hoffte gegen die Gewissheit an, die sich in ihr ausbreitete, überholte riskant, während Schweiß das Lenkrad glitschig machte. Kein Leder wie heute, sondern glattes, schwarzes, totes Gummi. Ein Kombi, nagelneu und mit mehr Airbags, als sie hätte aufzählen können. Alles für die Sicherheit. Alles im Vorher.

Kreisstadt, Krankenhaus, Parkplatz, Notaufnahme. Zweiunddreißigste Woche.

Stille.

Wieder muss Hanna sich zurückfallen lassen, das Auto murrt, aber es gehorcht ihrem Fuß, der nachdrücklich auf der Bremse steht. Nun ist sie es, deren Rückspiegel vom Hintermann ausgefüllt wird. Die Fernlichter des SUVs blenden grell auf wie Zwillingssterne, die im Gleichtakt eine Strahlungseruption ins All schicken.

Das Sternenkind Proxima Centauri B wird alle paar Tage von solchen Eruptionen getroffen. Immer wenn seine Sonnenmutter ihr Magnetfeld nicht mehr beherrscht, wirft sie zwei Millionen Grad heißes Plasma ins All, das so hell leuchtet wie sie selbst. Der Planet wird von der Röntgenstrahlung dieser Flares förmlich geröstet und die Atmosphäre zerstört. Seine eigene Mutter nimmt ihm die Luft zum Atmen.

Hannas Hände zucken auf dem Lenkrad. Der Spurhalteassistent piepst aufgeregt und schiebt das Auto zurück in die Mitte des Fahrstreifens.

Ralf sagt, sie soll nicht fahren, wenn sie müde ist.

Hanna ist nicht müde.

Der Oberarzt runzelte die Stirn, fragte nach Blutungen, studierte das CTG, sonografierte, scheuchte barsch eine Schwester zum Labor. Er sah müde aus, als er schließlich sagte: Es tut mir leid.

Ob man jemand anrufen solle?

Ralf nahm an der Strategiesitzung eines Kunden teil, hunderte Kilometer entfernt, aber er setzte sich sofort ins Auto und kam. Saß neben ihrem Bett, legte den Arm um sie und wartete gemeinsam mit ihr auf Wehen, die etwas auf die Welt bringen sollten, das längst nicht mehr von dieser Welt war.

Ein Sternenkind, sagten die Schwestern und kleideten das Etwas beinahe zärtlich in einen winzigen Strampler.

Ein blutiger Klumpen, sagte Hannas Wahrnehmung.

Wir schaffen das, sagte Ralf.

Hanna schreckt hoch, als das Auto von selbst verzögert und sie in den Gurt gedrückt wird. Der Vorausfahrende hat den Blinker gesetzt und seine Bremsleuchten flammen auf. Erst jetzt nimmt sie das drängende Summen des Notbremsassistenten wahr. Der Vordermann biegt ab und der Druck des Gurtes lässt nach. Das Auto rollt weiter, exakt zwanzig Zentimeter neben dem Seitenstreifen, unbeirrbar wie die Gravitationskräfte, die Proxima Centauri b auf der Spur um seine tödliche Sternenmutter halten.

Achselzuckend gibt sie Gas.

Ob Ralf den Satz heute noch sagen würde?

Ein roter Zwerg leuchtet schwach, aber fast ewig. Auch wenn seine Sternengeschwister von Alpha Centauri sich in einer Supernova auflösten, würde er unbeirrbar sein mageres Licht verströmen, vielleicht Billionen von Jahren lang. Rote Zwerge gehen sparsam mit ihrem Brennstoff um, ganz anders als ihre Geschwister am anderen Ende der Hauptsternreihe, die Riesen und Überriesen, die sich manchmal nur ein paar Millionen Jahre lang in den Vordergrund spielen, bis ihr Wasserstoff aufgebraucht ist und sie mit einem großen Knall als Supernova die Bühne verlassen. Wenn die Verschwender sich längst in Neutronensterne und schwarze Löcher verwandelt haben, leuchten ihre unauffälligen kleinen Geschwister immer noch schwachrot in der Dunkelheit.

Hanna leuchtet nicht mehr. Vorher hätte sie sich in der Beschreibung eines Roten Zwergs gut wiedergefunden: Eher unauffällig, aber robust und langlebig, mit gelegentlichen Temperamentsausbrüchen, die ihre Umgebung überraschen. Jetzt, im Nachher, ist sie ein ausgebrannter roter Zwerg, den irgendeine kosmische Katastrophe aus der Bahn gekegelt hat, sodass er fern seiner Sonnengeschwister kalt und tot durch die Leere zieht. Nähe ist gefährlich. Allein zu sein mit sich selbst, bringt sie Stück für Stück um, aber verhindert, dass das, was in ihrem Inneren eingefroren ist, aus seiner Froststarre erwacht und sie in Stücke sprengt.

Blinker, Verzögern, Abbiegen. Noch vier Kilometer bei einundzwanzig Grad. Am Ende warten die Hitzewelle draußen vor dem Auto und ein Haus, das zu groß ist für zwei.

Und Ralf.

Unwillkürlich gleitet ihr Fuß vom Gas. Der Hintermann hupt und blendet auf. Als er ausschert und wild gestikulierend überholt, dringt das Aufheulen des Motors sogar bis in ihre Stille.

Es wird kein anderes Kind geben.

Vielleicht ist Ralfs Hingabe, die im Nachher noch viel heller strahlt als früher, einfach zu viel für sie. Vielleicht wird sie bald von seiner Anziehungskraft zerrissen, bis nur noch deformierte Fetzen ihrer selbst um ihn und seine blendende Zuneigung kreisen. Das scheint ihre Wahl: eisige Ferne oder die zerstörerischen Kräfte seiner Gegenwart und Liebe. Die habitable Zone um ihn ist dünn geworden. Vielleicht gibt es sie nicht mehr.Der Kies der Auffahrt knirscht unter den Rädern. Vor ihr öffnet sich scheinbar von allein das Tor der Doppelgarage und unter dem gemauerten Bogen der Eingangstür breitet Ralf seine Arme aus.