schreibt Fantasy

Magnolie

Frau S. hat ihren Hut abgenommen, den Mantel behält sie an. Kerzengerade sitzt sie da und drückt die Hutkrempe gegen den Verschluss ihrer Handtasche, bis die Fingerspitzen blutleer sind.

„Ich möchte nach all der Zeit endlich wissen, woher ich komme. Und warum man mich dort weggenommen hat.“

„Was lässt Sie gerade jetzt nach der Antwort suchen?“

Zum ersten Mal nimmt sie Blickkontakt auf, ganz kurz nur. „Ich hätte viel früher meine Mutter fragen sollen. Sie ist mir immer ausgewichen. Ich habe mich damit zufriedengegeben und jetzt ist es zu spät. Morgen kommt ihre Urne aus dem Krematorium.“ Ihre Hände lösen sich vom Taschenverschluss und formen eine Schale, die in zwei Hälften zerbricht. Das Zittern ihrer Lippen ist nur zu erahnen. „Es ist ja nicht so, dass ich nichts wüsste. Auseinanderleben, Streit, Scheidung, die Kinder werden geteilt. Aber warum habe ich meine Geschwister nie wiedergesehen?“

„Wie viele Geschwister haben Sie?“

„Zwei. Florian ist der Älteste. Drei, nein: vier Jahre über mir. Dann Marcus, der ist ein Jahr jünger als Florian. Glaube ich. Drei Kinder in vier Jahren. Vielleicht hat mein Vater ja wieder geheiratet. Das weiß ich alles nicht. Ich weiß gar nichts.“

„Weil Ihre Mutter immer ausgewichen ist.“

Wortlos nickt sie.

„Haben Sie jemals versucht, an anderer Stelle etwas über Ihre Familiengeschichte herauszufinden? Jugendamt, Meldebehörde, solche Möglichkeiten?“

Ihr Kopfschütteln, anfangs zögerlich, wird immer heftiger. „Nein. Nein. Das war … nein, es war nicht verboten, aber ich hatte immer das Gefühl: Wenn ich das tue, begehe ich ein Verbrechen. Dann passiert etwas ganz Schlimmes.“

„Was hätten denn gefühlt passieren könne?“

Wieder schüttelt sie den Kopf. „Ich weiß nicht. Das war tabu, einfach tabu.“

***

Wieder trägt Frau S. Hut, eine Art Filzschachtel in Schwarz. Ihr grauer Filzmantel zeigt einen schwarzen Trauerrand. Wie immer sitzt die Handtasche unbeweglich auf ihrem Schoß. Die Begrüßung absolviert sie beinahe hastig und strebt auf den Patientensessel zu.

„Mir ist etwas aufgefallen nach unserem letzten Gespräch. Ich hatte Ihnen ja vor einiger Zeit schon erzählt, dass meine Mutter mir immer ausgewichen war. Aber es war mehr als Ausweichen. Sie hat nie etwas gesagt, aber die Miene, die sie dabei zog, die hat mir immer signalisiert: Frag nicht weiter, du tust mir unendlich weh. Und ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Das kann ich ohnehin gut, das mit dem schlechten Gewissen. Bloß nicht über mich reden. Als wäre ich gar nicht da.“

„Oder als dürften Ihre Bedürfnisse und Fragen nicht da sein. Als hätten Sie dafür keine Erlaubnis.“

Sie schweigt und umklammert den Verschluss der Handtasche. Einen Moment später schüttelt sie den Kopf und blickt auf, als wäre sie gerade erwacht. „Sie sprechen manchmal so leise. Was haben Sie gesagt?“

„Es klingt, als wären einige Ihrer Wünsche verboten.“

„Ich höre manchmal so schlecht“, murmelt sie, ohne auf den Satz einzugehen. „Aber an eine Unterhaltung kann ich mich noch erinnern. Meine Mutter sagte, mein Bruder hätte mich … angefasst.“ Sie schüttelt sich, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Das war das Einzige, was sie erwähnt hat. Und danach nie wieder.“

„Wissen Sie noch, wo Ihre Familie gewohnt hat?“

„Natürlich weiß ich das!“ Sie wirkt beinahe entrüstet.

„Sind Sie schon jemals wieder dort vorbeigekommen?“

Frau S. schweigt.

***

„Ich bin daran vorübergegangen“, erklärt sie, noch bevor sie Platz genommen hat. „Genau wie Sie mir aufgetragen haben. Das mache ich nie wieder, hören Sie? Es war entsetzlich peinlich!“

„Was ist Ihnen denn passiert?“

„Ich habe das Haus angesehen. Plötzlich sprach mich jemand an. Ich habe ihn nicht verstanden, er sprach so leise. Vielleicht brauche ich doch ein Hörgerät. Seltsam, normalerweise komme ich gut zurecht. Aber er sah so wütend aus. Ich habe nicht nachgefragt, sondern bin schnell weggelaufen. Das ist doch ungezogen, ein Haus so anzustarren!“

„Was hätte nach Ihrer Vorstellung passieren müssen, als Sie vorbeigegangen sind?“

„Ich weiß nicht. Irgendetwas. Ein Wunder, wie in Grimms Märchen. Schneewittchen. Aber das war sicher auch wieder nur so eine Fantasie.“ Sie verzieht den Mund. „In meinem Alter brauche ich keinen Prinzen. Ich weiß nicht einmal, wer da jetzt wohnt.“

„Sie haben nicht auf das Klingelschild gesehen?“

„Nein, wo kämen wir da hin? Ich kann doch nicht einfach -“ Frau S. stockt. „Unsinn. Natürlich kann ich ein Klingelschild ansehen. Aber ich habe es nicht getan, einfach nicht getan. Manche Sachen darf ich einfach nicht.“

„Sonst?“

Sie antwortet nicht. Ihr Blick geht ins Leere, fährt hoch konzentriert hin und her, als würde sie ein Bild im Museum betrachten. Der ganze Körper steht unter Spannung, ihre Finger pressen neue Knickfalten in die Baskenmütze. „Irgendetwas war anders“, murmelt sie. „Das Haus sah nicht so aus wie früher. Aber ich komme einfach nicht darauf, was sich verändert hat.“

Warten. Stille.

Frau S. strafft sich. „Das ist auch unwichtig. Ich werde so etwas auf keinen Fall noch einmal tun.“

***

Ihr winziger Hut ist mit Nadeln an der Frisur festgesteckt, der Mantel ist einer Strickjacke gewichen.

Heute wird die Handtasche geöffnet.

„Ich war wieder dort. Auf der anderen Straßenseite, man möchte ja nicht unhöflich sein. Ich habe ein Foto gemacht, hier, sehen Sie?“

Frau S. reicht die Aufnahme herüber, auf der ein Gründerzeithaus zu sehen ist. Steinerne Vortreppe, Portikus, Bogenfenster. Ein ungepflegter Vorgarten, Gartenmauer und Torbogen von Efeu überwuchert.

„Ich habe es gleich entwickeln lassen.“ Frau S. nimmt das Bild zurück. „Seither grüble ich, was sich verändert hat. Etwas fehlt, da bin ich mir ganz sicher.“ Sie blickt auf. „Aber da ist noch etwas. Es klingt vielleicht ein bisschen komisch. Vielleicht werde ich langsam wunderlich.“

„Was ist komisch?“

„Immer wenn ich das Bild betrachte, höre ich schlecht. Es ist, als ob ich für einen Moment taub wäre.“

„Ist Ihnen noch etwas zu Ihren Brüdern eingefallen?“

„Ich denke nicht über sie nach. Sonst werde ich immer so traurig.“

„Traurig? Nicht ängstlich oder angeekelt oder so etwas?“

„Nein. Traurig.“

***

Strohhut, dünne Bluse, die Strickjacke hat Frau S. wie ein Cape über die Schultern gelegt. Das Bild des Hauses zeigt bereits abgestoßene Ecken und Fingerabdrücke am Rand.

„Immer wenn ich es ansehe, werde ich traurig“, murmelt Frau S. „Und einsam. Aber das ist Unsinn, ich bin nicht einsam. Ich treffe mich beinahe jeden Tag mit einer Freundin. Ich bin nicht einsam.“

„Auch nicht nach dem Tod Ihrer Mutter.“

Sie blickt auf. „Gerade nicht nach dem Tod meiner Mutter! Vorher war ich einsam. Sie hat dafür gesorgt, dass ich alle Verabredungen abgesagt habe. Ich sollte nur für sie da sein. Seit ihrem – seither treffe ich mich oft mit alten Freundinnen. Nein, ich bin nicht einsam“, wiederholt sie nachdrücklich und lässt den Blick auf das Foto sinken. „Nur wenn ich das Haus sehe.“ Und beinahe unhörbar: „Da fehlt etwas.“

„Etwas oder jemand?“

„Etwas. Jemand.“ Sie krümmt sich wie unter einem Krampf. Holt tief Luft. „Ich finde es einfach nicht.“

„Wenn Sie das Bild betrachten, wo ist das Gefühl am stärksten?“

„Hier.“ Sie deutet ohne Zögern auf eine Stelle links vom Eingang.

„Also im Vorgarten.“

Keine Antwort. Ihre Hände zittern, als wollte sie sich mit dem Foto Luft zufächeln. „Da stand er.“

„Wer? Oder was?“

„Baum“, flüstert sie und starrt ins Leere. Das Foto flattert zu Boden. Ihre Lippen formen lautlose Worte. Schließlich entfährt ihr ein einziges Wort: „Marcus!“

Lange später richtet sie sich auf und legt die Hände auf ihre Handtasche, als müsste sie sich mit großer Mühe kontrollieren. „Da stand ein Baum. Kein sehr großer, aber er reichte bis zum ersten Stock. Eine Magnolie, genau. Die blühte so schön. Marcus ist manchmal aus seinem Fenster gestiegen und daran heruntergeklettert.“

Stille.

„An dem Tag, als ich – als meine Mutter gegangen ist …“ Sie hebt das Bild auf und verstaut das Taschentuch sorgsam in ihrer Handtasche. Der Verschluss klackt.

„An dem Tag war er gerade in den Baum geklettert. In die Magnolie. Es war Sommer, die Blüten waren längst weg. Und als wir zum Taxi gelaufen sind, fiel er herunter. Genau in dem Moment, in dem ich mich umdrehte. Ich sehe noch die groteske Haltung und sein erstauntes Gesicht, bevor er aufkam. Er wollte sich verabschieden. Er war mein – ich mochte ihn am liebsten. Lieber als meine Mutter, glaube ich.“ Und leiser: „Das hat sie nicht ertragen.“

„Was ist dann passiert?“

Keine Antwort. Die Pause dehnt sich. Als Frau S. schließlich weiter spricht, klingt ihre Stimme so neutral, als läse sie die Nachrichten vor. „Ich weiß es nicht. Das Taxi fuhr los.“

„Ihre Mutter ist mit dem Taxi weggefahren und hat nicht nachgesehen, wie es ihrem Sohn ging, der gerade vom Baum gefallen war?“

„So muss es wohl gewesen sein.“

***

Die Tasche bleibt dieses Mal zu, der Hut auf dem Kopf, die Strickjacke an. Sie wartet.

„Wie ist es Ihnen nach der letzten Stunde ergangen?“

Frau S. zuckt mit den Schultern. „Jetzt weiß ich jedenfalls, was damals passiert ist.“

„Zumindest Teile davon. Haben Sie jemals erfahren, wie es Ihrem Bruder nach dem Sturz ergangen ist?“

„Nein.“

„Vielleicht hatte er nur ein paar blaue Flecken. Vielleicht lebt er noch in dem Haus. Dann könnten Sie ihn danach fragen.“

„Warum sollte ich das? Keiner meiner Brüder hat jemals nach mir gefragt.“ Sie schiebt den Unterkiefer vor und spitzt die Lippen in einer Geste der Missbilligung.

„Und das Haus?“

„Es ist ein Haus wie jedes andere. Mit oder ohne Baum. Mit oder ohne Sturz.“

„Vermissen Sie Ihre Geschwister eigentlich?“

„Darüber möchte ich nicht sprechen. Ich finde übrigens, dass wir unser Ziel erreicht haben. Jetzt weiß ich, was war, das ist genug. Ich denke nicht, dass es mir guttäte, noch länger herzukommen.“