schreibt Fantasy

Der Weg in die Schatten

„Hast du den Safran?“
Lena nickte und zog die winzige Dose aus ihrer Tasche. Seit Stunden hockte sie mit Kelsa vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer der Hübners. Das Buch mit dem schweren Ledereinband lag aufgeschlagen zwischen den Mädchen. „Rezept, ueber die Flamme hinweg zu steygen in das Reich der Schatten und wieder zuruek“, stand da in verschnörkelter Schrift. Kelsas Oma hatte mit kräftigen Buchstaben daneben geschrieben: „Für gute Beleuchtung sorgen. Ohne Licht keine Schatten. Immer zu zweit.“
Kelsa hatte den Schirm der Stehlampe abgenommen. Das Licht der nackten Glühbirne ließ die Flecken und Risse der mürben Buchseiten hervortreten. Wenn man beim Umblättern nicht aufpasste, lösten sich Einzelne Seiten aus dem Buch.
Ein echtes Hexenbuch, sagte Kelsa.
Kelsa spinnt, sagten die anderen in der Klasse.
Lena leerte die Safrandose über das Holzscheit vor ihnen. Kelsa fügte zwei Löffel Salz dazu und vermischte mit dem Finger die zwei Pulver. Sie fuhr die Zeilen der Buchseite nach. „Magia flammai orbem umbrarum aperiat …“
Lena fiel in ihren Singsang ein. Der lateinische Text verwandelte sich nach wenigen Zeilen in ein Kauderwelsch sinnloser Silben. Kelsas Zeigefinger folgend, quälten sie sich durch den Zauberspruch und starrten auf das Scheit.
Nichts geschah.
„Das war wohl Essig.“
„Warte!“
Jetzt sah auch Lena den Rauchfaden. Ein winziger Lichtpunkt tanzte über dem Salz, das aufschäumte wie Brausepulver. Knisternd und zischend versank es im Holz und ließ einen scharfen chemischen Geruch zurück. Das Scheit schimmerte nun in einem irisierenden Gelb.
Kelsas Augen funkelten. „Oma wäre stolz auf mich. Los, weiter! Wo ist das Berlinerblau?“
Eine Stunde später roch es im Wohnzimmer der Hübners wie nach dem Brand in einer Chemiefabrik. Holzscheite in allen Farben stapelten sich auf dem Rost des Kamins.
Wütend warf ihre Freundin das Feuerzeug hin und schlug das Buch zu. „Verdammt, es ist Holz! Warum brennt das Zeug nicht? Wir haben alles genauso gemacht, wie es drinsteht!“
„Geht das Rezept denn nicht auf der anderen Seite weiter?“
„Da steht schon der nächste Zauberspruch.“
„Vielleicht ist ja eine Seite herausgerissen.“
Kelsa schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben sicher irgend etwas falsch gemacht. Los, noch mal!“
Lena musste nicht überredet werden. Es gab nichts Aufregenderes, als mit Kelsa vor dem Kamin der Hübners zu sitzen und uralte Zauberformeln zu rezitieren. Sie liebte die Geschichten von der Hexenoma, die ebenso zu Kelsa passten wie das windschiefe Haus mit seinen dunklen Zimmern und der offenen Feuerstelle.
„Das Buch ist uralt“, murmelte sie. „Ein Zauberfeuer darf man sicher nicht mit einem Benzinfeuerzeug anmachen.“
„Natürlich!“ Kelsa kramte aus einer Schublade ein Päckchen Ofenanzünder hervor, riss eins der Hölzer an und entzündete damit einen Kienspan. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, als sie erneut das Feuer beschwor. Dieses Mal hatte sie Erfolg. Mit einem leisen Puffen entzündeten sich die Holzscheite.
Lena biss sich auf die Lippen. Das waren keine normalen Flammen! Sie strahlten weder Licht noch Hitze ab. Stattdessen hatten sie etwas … etwas Papiernes, als hätte jemand aus Zeitungen ein Flammen-Origami gefaltet und ihm Leben eingehaucht. Sie züngelten nicht fließend, sondern bewegten sich abgehackt, ihre Kanten waren scharf und eckig, und im Licht der Glühbirne konnte Lena ihre Schatten auf der Rückwand des Kamins tanzen sehen. Seit wann warfen Flammen Schatten, anstatt selbst zu leuchten? Das Feuer klang wie das Rascheln alten Papiers. Auch das Holz knisterte nicht und zeigte keine Brandspuren, sondern schrumpfte zusammen, als ob es einfach verdampfte.
Kelsa stützte das Kinn in die Hände und sah eine Weile dem Tanz der Zauberflammen zu. „Mama hat mich angelogen. Ich habe immer gewusst, dass Oma eine Hexe war. Bevor sie ins Altenheim kam, hat sie gesagt, ich werde auch eine.“
„War sie … Ich meine, fehlt sie dir?“
Kelsa nickte wortlos.
Schließlich räusperte sie sich und griff nach einem abgekauten Tennisball. „Rackie? Wo ist der blöde Köter?“
Ein Bellen ertönte hinter dem Sofa. Lena beugte sich über die Armlehne. Dort hatte der Retriever es sich im Spalt zwischen Sofa und Wand gemütlich gemacht.
„Hier, Rackie! Schau mal!“ Kelsa wedelte mit dem Ball vor seiner Nase hin und her. Als der Hund danach schnappte, holte sie aus und warf den Tennisball in die Flammen. Er verschwand mitten im Flug, als hätte es ihn nie gegeben.
Lena sog scharf die Luft ein, als der Schatten des Balls von der Rückwand des Kamins zurückprallte und über die Kante des Feuerrostes auf den Fliesenboden huschte. Rackie schoss aus seinem Versteck hervor und jagte dem Schemen nach, der gerade noch sein Spielzeug gewesen war. Doch der glitt weiter und verschmolz mit dem massigen Schatten der Sitzgruppe. Kläffend stöberte Rackie in den Ecken, aber der Ball blieb verschwunden.
„Na also.“ Triumph schwang in Kelsas Stimme mit, als sie sich aufrichtete und auf die Schatten starrte, die die Zauberflammen auf der Kaminrückwand warfen.
„Mach das aus!“
Die Mädchen fuhren herum. Kelsas Mutter stand noch im Mantel in der Tür und hatte die Fäuste geballt.
Kelsa holte tief Luft. „Du hast gelogen, Mama! Oma war …“
„Mach das augenblicklich aus!“
So wütend hatte Lena Frau Hübner noch nie gesehen. Unwillkürlich duckte sie sich, aber die beiden stritten sich lautstark und beachteten sie gar nicht.
Das Feuer löste den Konflikt, indem es von einem Moment auf den nächsten erlosch. Von den Holzscheiten war nicht einmal mehr ein Aschehäufchen übrig.
Kelsas Mutter packte das Buch und hielt es von sich weg wie ein giftiges Reptil. „Du rührst das nicht mehr an, hörst du? Nie mehr! Und wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du in Omas Sachen kramst …“ Sie suchte nach Worten. „Du hast ja keine Ahnung, was du damit anrichten kannst!“
Kelsa schwieg und verschränkte die Arme. Offenbar war das Thema für sie keineswegs erledigt.


„Mama hat noch den ganzen Abend ein Riesentheater gemacht“, erzählte Kelsa am nächsten Tag in der großen Pause. „Sie hat zugegeben, dass Oma eine Hexe war! Angeblich hat das Zaubern damals jede Menge Unheil angerichtet.“
„Unheil? Was für Unheil?“
„Mama sagt, dass ich mal eine Tante hatte. Mamas Schwester. Und die war irgendwann spurlos verschwunden. In ihrem Zimmer lag auch so ein Zauberbuch. Danach hat Oma alles auf den Speicher gepackt und nie wieder darüber geredet. Als sie ins Altenheim kam, hat Mama das ganze Zeug verbrannt.“
„Nur nicht dein Buch.“
„Bis gestern jedenfalls. Mama hat eine komplette Flasche Spiritus darüber geleert und es angezündet.“
„Echt? Wahnsinn.“ Lena spürte die Enttäuschung wie einen Klumpen im Magen. Keine magischen Sprüche mehr, keine Papierflamme. Ein bisschen Erleichterung war auch dabei. Sie ahnte, dass beim nächsten Mal nicht nur Tennisbälle ins Feuer geflogen wären.
„Schade“, sagte sie. „Aber hin ist nun mal hin.“
„Denkt jedenfalls Mama.“ Triumphierend zog Kelsa einen dicken Papierstapel aus ihrer Tasche. „Ich dachte mir schon, dass so etwas tut, wenn sie uns mal erwischt. Zum Glück lassen sich auch Hexenbücher kopieren. Also, was ist? Dienstag nach der letzten Stunde?“
„Ich bin dabei“, erwiderte Lena und versuchte erfolglos, ein dumpfes Gefühl zu ignorieren. Keine von ihnen wusste wirklich, was so ein Feuer anrichten konnte.


Kelsa schüttete die Scheite aus ihrer Sporttasche auf den Boden. Das Holz schimmerte in allen Regenbogenfarben, sobald ein Sonnenstrahl darauf fiel. Mit geübten Händen errichtete sie einen kleinen Scheiterhaufen für die Beschwörung. Rackie schnupperte an dem bunten Holz und wickelte seine Leine um Kelsas Beine.
„Rackie, lass das! Fertig, Lena?“
Lena antwortete nicht, sondern verfolgte mit Blicken die Wolkenschatten, die den Boden der Kiesgrube in einen sich ständig wandelnden Fleckenteppich verwandelten. In der letzten Stunde waren es immer mehr geworden und der Wind hatte aufgefrischt. Es würde Regen geben.
Mit einem Puff entzündeten sich die Scheite des Stapels. Wieder tanzten papierne Flammen über dem farbigen Holz und warfen ihre Schatten auf die spärlichen Grasbüschel, die auf dem Boden der Kiesgrube wuchsen.
„Hier, schau mal!“ Kelsa zog einen neuen Tennisball aus der Tasche und wedelte Rackie damit vor der Nase. „Na, willst du den haben?“ Sie wehrte den Hund ab, der winselnd an ihr hochsprang. „Los, hol ihn dir!“ Mit einer schnellen Bewegung führte sie den Ball direkt vor Rackies Nase vorbei und warf ihn in die Flammen. Kläffend sprang Rackie hinterher und verschwand mitten in der Luft.
„Da!“
Lena folgte Kelsas ausgestreckter Hand und unterdrückte einen Aufschrei. Der Schatten des Balls rollte über den Boden, überquerte mühelos Grasbüschel, floss über Steine und wurde von Rackies Schatten verfolgt, der noch immer seine Leine hinter sich her schleifte. Der Schattenhund nahm den Schattenball ins Maul.
Dann blieb er stehen.
„Komm her, Rackie! Bring den Ball! Guter Junge! Komm!“
Der Schattenhund schien sie zu sehen, aber er wagte sich keinen Schritt weiter, sondern kauerte sich hin, eine zitternde, verschwommene Kontur auf dem steinigen Boden.
Der Schatten einer Wolke fiel auf die Kiesgrube und verschluckte Rackie. Lena hielt den Atem an. Kelsa neben ihr biss sich auf die Unterlippe.
Als sich die Wolke verzog, war Rackie verschwunden.
„Scheiße!“
Die Mädchen blickten sich hektisch um. Schließlich entdeckte Lena den Schattenhund. Direkt hinter Kelsa hockte die unglückliche Schattenkreatur und zitterte erbärmlich.
„Ich hole ihn.“ Kelsas Stimme klang dünn. „Siehst du seine Leine?“
Der Schatten der Hundeleine zog sich durch den Kies bis kurz vor das Schattenfeuer, dessen Scheite merklich geschrumpft waren.
Kelsa kniete sich neben das Feuer, nahm einen tiefen Atemzug und streckte den Arm durch die Flammen. Wie Rackie verschwand er im Nichts. Lena hielt den Atem an, aber Kelsa verzog nicht einmal das Gesicht.
„Wie fühlt es sich an?“
„Ganz normal.“ Kelsa beobachtete den Schatten ihrer Hand auf dem Boden und bewegte die unsichtbaren Finger. „Ich kann die Leine nicht greifen. Es ist, als ob ich versuche, einen Schatten zu fassen.“
„Aber deine Hand ist doch auch ein Schatten! Vielleicht greifst du einfach daneben?“
„Versuch es doch selber!“, herrschte Kelsa sie an. „Nein, es geht nicht! Ich muss ganz …“
Lena packte sie am Arm. „Du darfst da nicht rein! Irgendetwas ist da nicht in Ordnung, das siehst du doch an Rackie!“
„Und was soll ich meiner Mutter sagen? Rackie ist in der Kiesgrube, geh einfach hin und nimm seinen Schatten an die Leine?“
„Aber …“
„Zeig mir einfach die Richtung an und zieh mich wieder raus, ja?“
Ehe Lena sie daran hindern konnte, sprang Kelsa über das Feuer und verschwand. Im gleichen Moment wurde ihr Schatten auf dem Boden der Kiesgrube sichtbar.
Lena biss sich auf die Fingerknöchel. Sie beobachtete, wie die Schattenkelsa ihr vom Boden aus zuwinkte und auf allen Vieren zu Rackie hinüberkroch. Kelsa zog an der Leine, aber Rackie rührte sich nicht von der Stelle.
Lena warf einen Blick auf das Feuer. Die Scheite hatten nur noch ein Viertel ihrer ursprünglichen Größe und wurden schnell kleiner. Hektisch winkte sie ihrer Freundin. „Beeil dich!“
Eine Wolke schob sich vor die Sonne und löschte die Schatten aus, Ball, Hund und Kelsa. Lena winkte ins Leere, zeigte auf das Feuer und ihre Armbanduhr. Hoffentlich begriff Kelsa, dass ihr die Zeit davonrannte!
Die brennenden Scheite schrumpften mit entsetzlicher Geschwindigkeit zusammen. Jetzt hatten sie die Größe eines Apfels, jetzt die einer Mandarine …
Lena holte tief Luft und steckte den Kopf ins Zauberfeuer.
Von einem Moment auf den anderen war alles in einen konturlosen dunkelgrauen Nebel getaucht. Um sie herum ertönte gleichmäßiges Rauschen wie aus einem Radio, bei dem der Sender verstellt war.
„Kelsa, das Feuer geht aus! Beeil dich!“, rief sie ins graue Nichts und zog den Kopf zurück. Keinen Moment zu früh: Während sie noch zusah, lösten sich die letzten Reste der Scheite in Nichts auf und das Feuer erlosch.
„Verdammt, verdammt, verdammt!“ Sie hastete zu Kelsas Tasche hinüber, die schlaff auf dem Boden lag. Es war, wie sie befürchtet hatte. Keine Ersatzscheite. Keine Kopien des Hexenbuchs.
Ein Tropfen zerplatzte auf dem Nylonstoff der Tasche. Lena erschrank und blickte hoch. Über ihr schob der Wind die Wolken ineinander, verwirbelte ihre Ränder zu grotesken Figuren und trieb einen dichten grauen Regenschleier auf Lena zu. Bald war sie nass bis auf die Haut.
Sie suchte den Boden ab, aber nichts verriet ihr, wo Kelsa in den Schatten festsaß. Ob man dort ebenfalls nass wurde? Der Regen ließ nach, aber im kalten Wind fühlten sich Lenas Kleider an, als seien sie aus Eisfäden gewoben. Ihre Zähne klapperten unkontrollierbar aufeinander.
Nein. Sie würde Kelsa nicht alleinlassen.
Lena kauerte sich hin, steckte die Hände unter die Achseln und versuchte sich so gut wie möglich gegen den Wind zu schützen. Zitternd verfolgte sie den Zug der Wolken. Langsam wurde es wieder heller. Ein Flecken Sonnenlicht glitt in majestätischer Ruhe in die Kiesgrube herab, aber er zog viele Meter entfernt vorbei und verschwand hinter den Büschen am Rand der Kiesgrube. Schließlich zog eine breite Säule aus Licht heran, erfasste Grasbüschel und Steine und ließ schließlich den nassen Boden glitzern und strahlen. Jeder Halm warf einen scharf gezeichneten Schatten auf den Boden der Kiesgrube.
Von Kelsa und Rackie fand sich keine Spur.


Es dämmerte schon, als Lena das rostige Gartentor der Hübners aufstieß und auf das windschiefe Haus zuging. In ihren Schuhsohlen schien Blei zu stecken, und ihre Beine in der klammen Hose bewegten sich nur gegen einen inneren Widerstand.
Die Tür wurde geöffnet. Im gelben Schein, der heraus fiel, erkannte sie Kelsas Mutter, die auf sie wartete. Lena blieb ein paar Schritte vor der Tür stehen und räusperte sich.
„Ich … ich …“
Kelsas Mutter trat zurück, um sie einzulassen. Ihre Augenlider waren rot und geschwollen. „Komm rein“, sagte sie. Ihre Stimme klang matt und erschöpft. „Ich kann mir denken, was passiert ist. Kelsa ist bereits hier.“
Hinter ihr an der Wand wedelte Rackies Schatten mit dem Schwanz.