schreibt Fantasy

Ausbooten

Endlich hast du die Vorbereitungen hinter dir, das Zusammenstellen der Ausrüstung, die Suche nach der passenden Spritzdecke und den Neoprenschuhen, das Zusammenlegen der Neoprenhose in der Sporttasche, hast den Proviant wasserdicht verstaut, Boot und Paddel aufs Auto gewuchtet, bist zum Treffpunkt gefahren, hast wieder einmal den ganzen Zirkus mitgemacht, vier Autos zur Ausstiegsstelle, zwei zurück, zehn Liter Super verfahren, um dreieinhalb Stunden die Natur zu genießen, hast dich ins Neopren gezwängt, den Helm unter dem Kinn verzurrt, das Boot zum Einstieg geschleppt, während die Spritzdecke um die Hüften wippte wie ein frivoles Lolitaröckchen, hast darauf gewartet, dass Heerscharen anderer Kanuten vor dir einbooten, hast den ersten Liter Schweiß ins Neopren vergossen, schließlich dein Boot an den Rand des Flusses gewuchtet, den Gummirand der Spritzdecke über den Einstiegswulst gezogen und das Paddel gegriffen. Jetzt ruckst du mit kräftigen Hüftstößen wie in einem lächerlichen Orgasmus das Boot nach vorn, bis der Bug im Wasser verschwindet, es im Auftauchen teilt, du zelebrierst den Moment, in dem die Strömung nach dem Boot greift, es schwebt, es schaukelt, nicht mehr mit dem Land verbunden, gleichzeitig frei und doch ein Sklave der Strömung und deiner Paddelschläge, die den Bug in die Strömung treiben, hohe Paddelstütze, Aufkanten, es dreht dich und das Boot flussabwärts, die Perspektive gerät in Bewegung, Bäume und Felsen des Hintergrunds verschieben sich gegeneinander, während die ersten neckischen Wellen gegen den Rumpf klatschen, es riecht nach Wasser und warmem Plastik, der Aluminiumgriff des Paddels liegt kühl in der Hand, im Kopf der Singsang des Kajaklehrers aus dem Salzburger Land, „Schwingende Technik“, du nimmst dir vor, heute Abend den Muskelkater genau an den richtigen Stellen zu spüren, setzt präzise Schläge – noch –, verfolgst die zwei Strudel, die links und rechts dem Paddelblatt folgen, spürst den Widerstand des Wassers in der Hand, die Beschleunigung, Kiesbänke und Felsen gleiten vorüber, darüber sonnenbeschienener Bergwald und ein blasser Himmel, das Wasser spätsommergrün in den Gumpen, kalt und klar über der Hand, mit jedem Schlag fährt der Bug die nächste Kurve einer endlosen Schlangenlinie nach, von fern die Rufe der Gruppe vor dir, das Flussbett wird flacher, enger, das Wasser beschleunigt, schießt dem ersten Katarakt entgegen, Felsen ragen aus dem Wasser, glänzend wie Walrücken, ziehen schäumende Wirbel nach, vorbei, flussabwärts wird das Rauschen lauter, vor dir teilen massive Felsblöcke den Fluss, du wählst den breitesten Arm, siehst die Prallwand aus nacktem Fels, kein Schaum, Gefahr, womöglich unterspült, du lenkst auf die Innenseite, weg von der Strömung, energische Züge, kein Kehrwasser, weiter, durch, das Donnern und Rauschen wird lauter, unten wirst du warten, da ist die Stufe, der Bug schießt über die Kante hinaus, neigt sich abwärts, da ist der Fall, jetzt, genau für diesen Moment hast du gelebt.


Kalter Schaum kocht bis zur Schulter, Durchziehen jetzt, du spürst den Zug der Walze, die dich einsaugen will, schneller jetzt, das ist kein Spielplatz hier, noch zwei, drei Schläge, der Zug lässt nach, macht dem Triumph Platz, gewonnen, am liebsten gleich noch einmal, aber flussabwärts kommt noch genug, das Wasser zerrt dich weiter, du hast vergessen zu paddeln, schwingende Technik, verflucht noch mal, da, Kehrwasser, Paddelstütze, Aufkanten, die Strömung schiebt dich hinein, Kies kratzt unterm Bug. Du wartest auf die anderen, aber niemand erscheint oben am Fall, wo bleiben die nur, ist doch komisch, denken die, du brauchst so lange, um aus dem Katarakt, ach da, endlich, da kommt einer, verdammt, das Boot schwimmt kieloben, keins, das du kennst, warum eskimotiert der nicht, verdammt ist etwas schiefgegangen oder, nein, das Boot ist leer, es taucht in die Walze, bis oben hin voll Wasser, dreht sich behäbig wie ein totes Walross, jetzt sieht der Bug heraus, das Heck, wieder der Bug, wo ist der Fahrer, ein Paddel schwimmt vorbei, verdammt, was ist – da erscheint ein Helm in der Walze, wird hineingezogen, das sieht gar nicht gut aus, bevor du zu Ende gedacht hast, bist du aus dem Boot, schnell, auf den Kies ziehen, nach dem Wurfsack angeln, das steile Ufer hinaufsteigen, sich zwischen anorektischen Fichtenstämmen näher an die Walze herantasten, schon wieder taucht der Helm auf, ein Mann mit Bart, er schnappt nach Luft, hat dich gesehen, winkt noch, während er schon wieder im Wasser verschwindet, du fummelst das Seil um einen Baum, lässt den ersten Karabiner einrasten, ziehst einen Meter Seil frei, wartest, verdammt, wo bleibt er, da taucht der Helm wieder auf, ist aus der Walze frei, wo sich die Schwimmweste des Mannes weiter bewegt wie im Schleudergang, der Mann rudert, winkt, schluckt Wasser, verschwindet ein Dutzend Meter flussaufwärts unter Wasser, du zielst, zitterst, wirfst, daneben, Seil einholen, schnell, noch ein Wurf, der Karabiner trifft den Helm, hat er das Seil erwischt, ja, er greift zu, es spannt sich, wirft dich um, er klammert sich fest, bekommt den Kopf über Wasser, die Strömung treibt ihn am Seil ins Kehrwasser, du stolperst hinüber, rutschst auf dem Moos aus, knallst neben ihm mit der Hüfte auf den Kiesstrand, seine Augen weit aufgerissen, du kannst das Weiße sehen, er holt rasselnd Luft, und während hinter ihm sein Boot vorbeitreibt, erbricht er Flusswasser auf den Kies. Du kannst den Blick nicht lösen von dem wässerigen Schleim, der ihm aus dem Mund tropft, seinen Bart verschmiert, auf den neongelben Handschuhen landet, er hustet, krächzt Wortloses, bäumt sich auf, erbricht den nächsten Schwall, nutzlos scharren seine Schuhe im Kies, er wischt mit dem Handschuh über den Mund, Sand und kleine Rindenstücke bleiben im Bart hängen, schon wird dir übel, du riechst den sauren Speichel, du kennst das ganz genau, du warst auch schon einmal dort.


Keine zehn warst du, das erste Mal im Boot, aus Kunstharz und Glasfaser im Vereinsheim gefertigt, bei denen man mit rot entzündeten Beinen ausstieg, enge Einstiegsluke, zu kleine Spritzdecke, von den Großen zu stramm aufgezogen, leuchtend gelbe Lastwagenfolie mit Trägern über der Schulter, keine Ahnung vom Paddeln, aber stolz und glücklich, das Boot war rot, dunkelrot, mit einer Schlaufe aus Bergsteigerseil, im Flusswasser ergraut, das Paddel eins von den alten, hölzernen, du siehst es vor dir, siehst den Bach, der durchs Unterallgäu mäandert, kurz nach dem Hochwasser, als die Büsche sich erschöpft vom Ansturm über das Wasser lehnten, das tagelang an ihnen gezerrt hatte, Weiden vor allem und andere, du kanntest sie nicht, du mochtest sie nicht, sie machten den Fluss unübersichtlich, du fuhrst mit dem Bug gegen das weichgespülte Ufer, es drehte dich rückwärts, nur mit Mühe fandest du die richtige Position, Rufe und Lachen der Erwachsenen, die allmählich leiser wurden, weil du immer weiter vorausfuhrst, weil es nicht ging, langsam zu paddeln, weil nur so der Bug vorn blieb und das Heck hinten, du wichst den Weiden aus und den anderen Büschen, die nicht mehr erschöpft aussahen, sondern tückisch und feindselig, du fuhrst allein auf dem Fluss, allein mit den Krähen und den Büschen und ein paar Kühen, die an der Tränke glotzten, das Boot leuchtete rot und das Wasser war schlammig braun und die Blätter der Weiden glänzten wie von Wachs überzogen in der Sonne, die gelegentlich den Weg durch die Wolken fand, und das Holz des Paddels lag warm in der Hand und die Oberarme schmerzten schon lange, als das Boot auf den Weidenbaum zutrieb, der sich heimtückisch mitten in die Strömung gelegt hatte, der dich mit seinen Zweigen umarmte und festzuhalten versuchte, du wusstest nichts vom Aufkanten, du lehntest dich weg, stromaufwärts, und das schlammig-braune Wasser fand seinen Weg auf das Rot des Kajaks und auf das Gelb der Spritzdecke und es zog dich hinein, kalt war es drunten und dämmrig, du wusstest noch, wo der Griff der Luke wartete, wusstest, dass du aussteigen musstest, doch der Haltegummi saß stramm und die Luke ging nicht auf und das Wasser war kalt und brannte in der Nase und wie du schließlich hinauskamst, weißt du nicht mehr, nur dass du irgendwann am Ufer saßest, weinend, mit einem roten Kajak und einem hölzernen Paddel und einer Nase voll trübem Wasser, und wie das Wasser auf einmal auch aus deinem Mund kam, als wärst du selbst zum Bach geworden, wie es dich schüttelte und würgte und presste, wie dich schließlich die Großen fanden und dir, bleich im Gesicht, Schlamm und Schleim aus dem Gesicht wischten und sagten: Wir müssen Kajakfahren lernen.


Der Mann vor dir scheint schneller zur Besinnung zu kommen als du selbst, er verzieht das Gesicht, wischt mit der Hand nach, zieht den Handschuh aus, wischt noch einmal, bis Schleim und Wasser und Sandkörner und Rindenstücke verschwunden sind, spuckt noch einmal aus, nimmt einen tiefen Atemzug, ganz langsam, bevor er den Blick zu dir hebt, mit dem Daumen hinter sich deutet und murmelt, ich hätte wissen sollen, dass man den nicht austrinken kann. Und da sind sie weg, das Ufer mit den Weiden und den anderen Büschen, das rote Kajak und das hölzerne Paddel, der Geruch nach Kuhweide und Algen, sie sind verschwunden, aber du weißt, sie werden wiederkommen, jetzt, wo sie dich gefunden haben, sie kennen den Geruch deiner Angst, sie kennen deine lautlosen Rufe unter Wasser, sie kennen den Jungen im roten Kajak, und sie warten immer noch auf dich.