schreibt Fantasy

Krähen

Als sie den Speiseraum des Landgasthofs betritt, wartet er schon. Wahrscheinlich hat er wieder einmal seine Verbindungen spielen lassen oder die Kreditkarte gezückt, um den Tisch vorn an der Panoramascheibe zu ergattern. Der Blick fällt auf offene Felder, die sich bis zum See hinunter ziehen, gesäumt von uralten Eichen. Cornelia kann sich jetzt schon vorstellen, wie wenig später ein Pärchen am Eingang angestrengt mit dem Oberkellner tuscheln wird: Aber wir hatten doch reserviert – tut mir unendlich leid – kostenloses Essen als Entschädigung – und so weiter und so fort. Falco wird das Gespräch registrieren, wie er alles registriert, aber er wird nicht triumphieren. Worüber auch? Wenn Falco einen Tisch will, bekommt er ihn, und wenn er eine Cornelia sprechen will, dann erscheint sie pünktlich an seiner Seite.
Sie lässt sich vom Oberkellner den Mantel abnehmen, aber als er sie zum Tisch geleiten will, lehnt sie freundlich, aber bestimmt ab. Nein, danke, sie findet allein hin, schließlich kann sie Falco schon sehen, der scheinbar aufmerksam die Weinkarte studiert.
Natürlich hat er sie gesehen. Falco sieht alles, hört alles, während er scheinbar unbeteiligt in der Karte blättert. Exakt im passenden Moment blickt er auf, lächelt erfreut und erhebt sich, um sie zu begrüßen. Cornelia hatte sich geschworen, ihn auf eine Armlänge Abstand zu halten, aber schneller als ein Gedanke hat er ihre Schultern ergriffen und ihr links, rechts, links ein Küsschen auf die Wange gehaucht. Du siehst umwerfend aus, sagt er.
Sie setzt sich schweigend, und die übrigen Gäste, die sie aus dem Augenwinkel beobachtet haben, wenden sich wieder ihren Gesprächen und Tellern zu. Hier ist man noch wohlerzogen, keiner hat sein Smartphone gezückt, sonst hätte sie morgen die Typen von der Klatschpresse an den Hacken. Wo Falco ist, da ist Öffentlichkeit.
Natürlich hat er für sie die Damenkarte kommen lassen, die ohne Preise. Er empfiehlt Fenchelcarpaccio mit Dorade als Einstieg und sucht schon nach dem passenden Wein, ehe sie sich entschieden hat. Er weiß, dass sie die Dorade nehmen wird. Es ist wie immer. Es ist wie früher. Wenn sie jetzt nicht handelt, wird er nicht nur den Rest des Abends bestimmen.
Cornelia räuspert sich angestrengt. Ich zahle selbst, sagt sie dann.
Beinahe hätte sie den Moment verpasst, in dem er stutzt. Einen Lidschlag später ist er bereits wieder der Alte und tut, als habe er sie nicht gehört. Also wiederholt sie etwas lauter: Ich zahle selbst.
Jetzt muss er doch aufblicken. Sein Lächeln, das ihr täglich von den Titelseiten der Hochglanzpostillen entgegen blickt, breitet sich bis in die Krähenfüße links und rechts der Augen aus. Aber meine Liebe, das ist doch nicht nötig, sagt er. Ich kann es mir wirklich leisten, meine Freunde einzuladen. Lass mir die Freude, dir eine Freude zu machen.
Es bleibt dabei, erwidert sie.
Also gut, lenkt er ein, wenn du darauf bestehst. Wir klären das nach dem Essen.
Sie kennt ihn zu gut, um das zu glauben. Kurz vor dem Nachtisch wird er sich für einen Moment entschuldigen und diskret am Tresen draußen zahlen. Wenn er nicht schon ein entsprechendes Arrangement mit dem Oberkellner getroffen hat. Den er natürlich niemals Oberkellner nennen würde, sondern Jacques, Armand oder etwas in der Richtung.
Während er die Bestellung aufgibt, blickt sie aus dem Fenster, verfolgt die dunkelgrauen Wolken, die über den Himmel jagen. Der Wind reißt an den Halmen, die sich schon aus der Erde gewagt haben, und lässt die alten Bäume gegeneinander schwanken, als tuschelten sie schlecht gelaunt miteinander. Einige haben schon ihr Laub ausgetrieben, und wären sie Menschen, würden sie es jetzt bereuen. Der Wind packt es und bläst es davon wie Spreu. Eine Schar Krähen kreist über ihnen, und Cornelia meint, ihr heiseres Krächzen bis hier in den Gasthof hören zu können. Unsinn, natürlich. In einem Haus wie diesem könnte draußen die Welt untergehen und der Oberkellner würde das Fenchelcarpaccio nicht weniger diskret servieren.
Krähe, so hat er sie früher genannt, meine kleine corneille, und ihr schwarzes Haar gezaust. Lass das, hat sie dann immer gebeten, und er, spöttisch: Das war doch schon vorher keine Frisur. Du solltest mehr aus dir machen.
Der erste Gang geht an ihr vorüber wie ein Gespräch in der U-Bahn. Falco schwärmt von Urlauben, die er gemacht, Häusern, die er gekauft, Menschen, die er getroffen hat. Sydney, New York, Bahrein, immer die richtigen Adressen. Sie hört nicht zu, sondern verfolgt den Krähenschwarm, der sich über einer der Eichen zusammengezogen hat wie eine lebende Gewitterwolke. Jetzt erkennt sie den winzigen Punkt direkt vor dem Schwarm, der mal enge Schleifen fliegt, mal in einen Sturzflug geht, nur um sich wenig später wieder zu fangen. Die Krähen scheinen etwas zu verfolgen.
Und du, fragt Falco in diesem Moment, bist du glücklich? Was machen die Kinder? Wie geht es Rook? Die Monate vor der Wahl müssen ein Horrortrip sein.
Sie schweigt.
Ja, Rook ist jetzt eine öffentliche Figur, fährt er fort, in diesem plaudernden Tonfall, in dem sich ein Kompliment ebenso verpacken lässt wie eine Morddrohung. Cornelia hört den leisen Spott, als er fortfährt: Ist das noch unser alter Rook? Man möchte gar nicht glauben, wie sich ein Mensch verändern kann. Früher hat er nicht mal Klassenreferate ohne Stottern bewältigt. Ich erinnere mich an seinen hochroten Kopf, als er …
Was willst du?, unterbricht sie ihn.
Er mimt Unverständnis, aber seine Augen haben ihn schon immer verraten. Sie kann beobachten, wie er neu kalkuliert, wie er in Betracht zieht, dass sie ihm mit der ersten Umarmung nicht sofort wieder verfallen ist.
Ich dachte ganz einfach, wir könnten wieder mal essen gehen, erklärt er mit einer Miene gekränkter Unschuld. Nettes Lokal, ein Gläschen Wein, nichts weiter.
Nichts weiter? Sie merkt, wie ihr die Stimme zu versagen droht, und hustet sich frei. Erst danach wird ihr bewusst, dass sie die Serviette benutzt hat, wie Falco es ihr beigebracht hat. Angewidert wirft sie das Tuch auf ihren Vorspeisenteller, und einen Augenblick später trägt ihn der Oberkellner geräuschlos davon.
Nichts weiter?, wiederholt sie. Das glaubst du doch selbst nicht.
Sei doch nicht so kratzbürstig, Cornelia. Das hattest du dir doch schon abgewöhnt. Oder glaubst du, Rook in seiner speziellen Situation kann es sich leisten, dass du mir eine Szene machst?
Am liebsten hätte sie ihm den Wein ins Gesicht geleert. Stattdessen wendet sie den Blick ab und beobachtet wieder den Krähenschwarm, den seine Jagd näher an den Gasthof herangeführt hat. Ein Falke ist es, den sie jagen. Vermutlich will er ihre Nester plündern, aber die Krähenkolonie setzt sich zur Wehr. Wieder und wieder versucht der Falke, dem Schwarm auszuweichen und zu ihrem Nistbaum zu gelangen, aber alle Versuche, seine Verfolger abzuhängen, laufen ins Leere.
Was willst du?, wiederholt sie.
Ich dachte, wir könnten uns gelegentlich wieder treffen. Wie früher.
Und warum jetzt? Brauchst du einen schnellen Fick als Ersatz für … wie hieß sie doch gleich? Ist es schon so dringend? Oder hat es mit Rook zu tun?
Jetzt mach aber einen Punkt, Cornelia, entgegnet er und kontrolliert mit einem schnellen Blick den Gasthof, um mit gesenkter Stimme fortzufahren: Es liegt mir fern, dich zu verletzen, aber dein Göttergatte geht mir noch immer am Allerwertesten vorbei. Wie auch dir, möchte man meinen, oder warum hast du ihn damals hintergangen? Die Früchte vom Baum der Popularität waren dir schon damals wichtiger als deine scheinheilige Moral. Oder kannst du dir allen Ernstes vorlügen, dass es dir nicht gefallen hat bei mir?
Sie fixiert ihn mit Blicken. Meinst du die Episode, nach der mich Rook nach den blauen Flecken gefragt hat? Oder die, nach der ich zum Arzt musste, weil die Blutung nicht mehr aufhörte? Wahrscheinlich hat dein Cabrio immer noch Blutflecke, oder war es in deinem Sadokeller?
Unwillkürlich ist sie lauter geworden. Sein Blick irrlichtert durch den Raum, aber die übrigen Gäste beugen sich auffällig unauffällig über ihre Teller. Nicht in diesem Ton, zischt er. Nicht mit mir, hörst du?
Ist es dir etwa peinlich?, fragt Cornelia und wünscht sich, so zuckersüß lächeln zu können wie das blonde Gift, das er im letzten halben Jahr ausgeführt hat. Stattdessen muss sie sich bemühen, das Zittern ihrer Unterlippe unter Kontrolle zu halten.
Was sollte mir peinlich sein?, gibt er zurück. Ich habe nur nicht vor, in aller Öffentlichkeit mein Privatleben zu diskutieren. Und du solltest daran ebensowenig Interesse haben. Denk an den armen Rook. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen könnte, wäre ein handfester Skandal, so kurz vor der Wahl, nicht wahr?
Soll das eine Drohung sein?
Ich gebe dir lediglich einen guten Rat, versetzt Falco. Als alter Freund und Mentor. Aber du hörst ohnehin nur das, was du hören willst.
Cornelia schweigt und sieht aus dem Fenster. Wo ist der Krähenschwarm geblieben? Gerade senkt er sich wieder auf die Nester, von dem Falken ist nichts mehr zu sehen.
Also gut. Falco klingt auf einmal sehr geschäftsmäßig. Es war wohl eine dumme Idee, sich noch einmal zu treffen. Ich hätte mir denken können, dass deine klägliche Ehe mit diesem Jammerlappen von einem Politiker sich nicht förderlich auf deinen Charakter auswirkt. Aber ich warne dich, sagt er und beugt sich vor, wenn du jetzt eine Szene machst, wenn du irgendwelche, irgendwelche Dummheiten machst, dann wirst du das bereuen bis ans Ende deiner Tage. Mein Wort drauf.
Und mein Wort darauf, erwidert Cornelia und löst ihren Blick von den Krähennestern. Wenn du noch einmal anrufst, wenn du Rook schaden willst, wenn du irgendwelche Dummheiten machst, dann wird unser kleines Gespräch an die Öffentlichkeit geraten. Im Wortlaut.
Sie zieht das Handy aus der Tasche und drückt auf die Stop-Taste der Diktat-App.
Einen fassungslosen Moment lang starrt er auf das Gerät.
Und wie willst du das deinem Göttergatten erklären?, fragt er dann. Seine Stimme klingt heiser. Wie wird der arme Rook wohl reagieren, wenn er hört, dass du ihn jahrelang mit einem Schauspieler betrogen hast?
Er weiß es längst, antwortet sie und verstaut das Gerät in ihrer Handtasche. Er wartet draußen auf dem Parkplatz. Ach ja, sagt sie im Aufstehen, es bleibt übrigens dabei. Ich zahle selbst.