schreibt Fantasy

Interferenz – Sternenkind 1

Ralf winkt dem ausgeblichenen Toyota hinterher, der am Ende der Straße abbiegt. Erst als das Auto aus seinem Blickfeld verschwindet, geht er hinein, streift die Sandalen von den Füßen und lauscht der Stille nach, die ihn umfängt.

Es ist ein großes Haus, genau wie Hanna es sich immer gewünscht hat. Groß und offen. Wenn mal Kinder kommen, sollen sie Platz haben, drinnen und draußen, auch wenn Hanna nun jeden Tag anderthalb Stunden zur Arbeit fährt. Zur Sternwarte, sagt sie immer, obwohl es lediglich ein Büroblock in irgendeinem abgelegenen Gewerbegebiet ist. Dort fahndet sie in den endlosen Zahlenreihen, die das Observatorium aus der Atacama-Wüste schickt, nach Exoplaneten.

Auf dem Tisch der Wohnküche zerläuft griesgrämig der Rest der Geburtstagstorte. Die immer gleiche Glückwunschkarte von seiner Mutter hat Hanna an seine Tasse gelehnt und auf den Teller ihr eigenes Geschenk gelegt, die Wunsch-Biographie, die er vor Monaten in einem Nebensatz erwähnte. »Für den hellsten Stern in meinem Universum«, steht auf ihrer Karte.

Allmählich nimmt die zerlaufende Torte groteske Formen an. Wo Hanna die Stücke fürs Frühstück herausgeschnitten hat, biegen sich die Seiten nach unten wie Brecher am Atlantik. Ralf stellt die Torte in den Kühlschrank und lässt einen neuen Kaffee aus dem Automaten, schwarz, ohne Zucker, nach Arabica duftend und heiß wie die Hölle.

Hanna hatte angeboten, diesen Tag frei zu nehmen und mit ihm zu feiern. Man könne doch etwas unternehmen, schön essen gehen, in die Berge fahren. Oder zu Hause bleiben, sich einkuscheln, Klingel und Telefon ausschalten.

Er lehnte lächelnd ab. Nein, nicht nötig, er werde nicht mehr so gern daran erinnert, wie alt er schon sei, und sie wolle den Tag doch sicher nicht mit einem Muffel verbringen, der über seine grauen Haare jammert. Aber vielen Dank für das Angebot. Nächstes Wochenende vielleicht? Sie zuckte mit den Schultern und wischte die Enttäuschung mit einem Lächeln aus ihrem Gesicht.

Der Kompressor des Kühlschranks erstirbt mit einem Zittern. Es ist still, vollkommen still. Selbst die Fliegen halten in ihrem Marsch über die Terrassentür inne. Nervöse Wellenringe huschen über den Kaffee.

Letztes Jahr. Letztes Jahr ließ er sich darauf ein und Hanna buchte ein Wellness-Geburtstagswochenende. Sie fand ein verstecktes Landhotel, das Lavendelölmassagen, Kristallgrotte, Whirlpool und Tipi-Sauna im Paket anbot. Der Zander im Vier-Gänge-Menü zerging auf der Zunge, nach dem gemeinsamen Joggen im Wald lagen sie im Whirlpool und abends ließ Hanna lächelnd den Bademantel von den Schultern gleiten.

Bis heute weiß er nicht, was der Auslöser war. Die gedämpfte Beleuchtung? Die fließende Bewegung des Frotteestoffs auf Hannas Schulter? Er sah eine andere Person, einen anderen Raum, andere Haut.

Scham. Wut. Ekel.

Sein Fluch zerplatzt zusammen mit der Tasse auf dem Boden. Kaffeespritzer verbrühen die nackten Füße, laufen an den weißen Schubladenfronten herunter, formen ein braunweißes Rorschachbild auf den Küchenfliesen. Augen. Dolche. Busen. Ein Rock. Blume. Die Teppiche im Wohnzimmer schlucken Fluch und Knall. Wie eine erstickende Decke legt sich die Stille über das Haus.

Er starrt die Scherben an. Augen und Dolche starren zurück, bis er in den Flur hastet, Sandalen überstreift und das Haus verlässt. Über den Kies der Einfahrt, über die Wohnstraße, die leblos in der Sonne röstet, ins Stoppelfeld und immer weiter. Weiter.

Nichts ist mehr, wie es war. Nichts.

Jedes Mal, wenn die Luft zwischen ihnen zu flirren beginnt, enttäuscht er Hanna, natürlich enttäuscht er sie. Ihr verletzter Blick, als er vor ihr zurückschreckte, hat sich gemeinsam mit all den anderen Blicken eingebrannt und folgt ihm an vertrocknetem Mais vorbei, bis er stehenbleibt und sich mit rasselndem Atem die Seite hält.

Gibt es eine brutalere Möglichkeit, deine Frau zu verletzen, als ihr zu erzählen, dass sie dich an deine Mutter erinnert? Gibt es. Ihr zu erzählen, dass sie dich an die Mutter erinnert, die an dir ein Verbrechen begangen hat.

Niemals. Niemals wird er es ihr sagen.

***

Hanna dreht den Regler des Autoradios auf. Achtziger-Tag, ausgerechnet. Sie schaltet es wieder aus und lauscht der Stille nach, die sich über die Geräuschkulisse eines zwölf Jahre alten Kleinwagens legt.

Ralfs Winken begleitet sie die Bundesstraße entlang. Er hat sich aufrichtig über das Buch gefreut und wurde ganz still beim Anblick der Torte, die sie gezaubert hatte, während er beim Badminton war. Wie ein kleiner Junge stand er davor und in den Augen glitzerte es verdächtig. Und dann stößt er sie wieder weg, jedes Mal. Was hat sie ihm angetan, dass er sie so verletzt?

Ortseinfahrt. Erschrocken geht sie vom Gas, aber es ist zu spät, ein orangefarbener Blitz löst sich aus der Radarfalle.

Verdammt. Und alles wegen ihm.

Warum ist sie damals nicht in der echten Sternwarte geblieben? Die Zusage für das Forschungsprojekt war nur noch eine Formsache. Mit den Kollegen aus Spanien und Bulgarien kam sie großartig klar und der nächtliche Blick auf die absolute Leere der Atacama-Wüste und den Sternenhimmel darüber schien jede Einsamkeit wert.

Sie hat abgesagt. Und jetzt sitzt sie in einem viel zu großen Haus auf dem Land, mit einem Partner, der sie offenbar so abstoßend findet, dass sie das gemeinsame Bett auch zersägen könnte. Es würde nichts verändern.

Das ist natürlich Blödsinn. Ralf liebt sie, da ist sie sich so sicher wie am ersten Tag. Er bringt ihr nach all den Jahren immer noch den Sonntagskaffee ans Bett und überrascht sie mit kleinen Gedichten, die er ihr in die Handtasche schmuggelt. Er räumt klaglos verwaiste Oberteile und Jeans weg, die im Badezimmer Staub ansetzen. Er weiß, welche Filme sie mag, kennt ihre Lieblingsband, besorgt ungefragt Karten für den Kabarettisten, den sie schon immer mal sehen wollte. Als sie ein Haus kaufen wollte, hat er zugestimmt, obwohl ihm auch eine Dreizimmerwohnung gereicht hätte.

Nur wenn es näher wird als das, wenn aus dem behaglichen Kuscheln Eros, Hunger, Lust wird, stößt er sie weg und verschwindet lächelnd hinter einer undurchdringlichen Glasschicht wie Schneewittchen im Sarg.

In der nächsten Ortsdurchfahrt bremst sie vor dem Blitzgerät so stark, dass der Hintermann aufblendet. Der Kühlergrill des Straßenpanzers füllt ihren Rückspiegel vollständig aus. Groß, stark, brutal, genau wie Simon aus dem Büro gegenüber. Der habilitiert in Kernphysik, aber außerhalb der Sternwarte gibt er sich wie Rambo auf Steroiden. Wahrscheinlich hat er auf der Ladefläche seines Pick-ups einen Granatwerfer installiert oder besser noch einen Spiegel, mit dem er im Rückspiegel sich selbst beim Fahren betrachten kann. Die Vorstellung lässt sie laut auflachen, bis sich ein Schluchzen darunter mischt.

Simon muss ihre Not gerochen haben wie eine Hyäne das Aas. Als sie nach der Projektkonferenz den Laptop abbaute, stand er in der Tür, wortlos, grinsend.

Kein Wort ist in den paar Minuten zwischen ihnen gefallen, auch kein Nein. Danach verschwand er in seinem Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen, und sie blieb an Leib und Seele zerzaust zurück.

Scham. Schuld. Ekel.

Sie kämpft mit dem Würgereiz. Das Ortsschild liegt längst hinter ihr, als der Hintermann erneut aufblendet.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Unvermittelt rammt sie dem Toyota den zweiten Gang in den Blechleib und drückt aufs Gas, bis die Begrenzungspfosten vorbeifliegen und die Reifen in der Kurve um Gnade wimmern. Das Vorderrad bollert über den Kies des Banketts. Mit flatternden Fingern hält sie sich am Lenkrad fest und bringt das Auto wieder unter Kontrolle. Der Hintermann zieht mit aufheulendem Motor an ihr vorüber. Noch immer außer Atem setzt sie den Blinker und biegt auf einen Feldweg ab, wo sie den Motor stoppt und auf das monotone Blinken der Digitaluhr starrt.

Sieben Uhr vierundzwanzig.

Sie wollte immer Kinder haben. Aber als der zweite Teststreifen sich verfärbte, hoffte sie, dass ihr Herz einfach aufhören würde zu schlagen. In der ersten Woche lief sie wie tot umher, lächelte mechanisch und tat ihre Arbeit in Haus und Büro, bis Ralf sie fragte, was eigentlich mit ihr los sei. Nichts, sagte sie, lächelte und riss sich zusammen, obwohl sie hinter der Fassade so tot und leer war wie die Atacamawüste.

So kann es nicht weitergehen.

Hanna atmet tief durch, startet den Motor und wendet. An der Bundesstraße reiht sie sich in den Verkehr ein, beschleunigt und nimmt den Weg zurück nach Hause.

Heute. Heute wird sie es ihm sagen.