schreibt Fantasy

Drei Wochen im April

Montag, 4. April
Um sechzehn Uhr siebenundzwanzig stach Hermann Schröder in Anwesenheit seines Terriers den Spaten in das Rübenbeet hinter seinem Haus. Damit durchtrennte er, ohne es zu merken, ein Hochleistungs-Glasfaserkabel der Germanet AG und unterbrach so den Datenverkehr zweier Universitäten, eines Zulieferers der Automobilindustrie, mehrerer Kraftwerke und einer zweistelligen Zahl mittelständischer Unternehmen.
Schröder ärgerte sich. Schon seit Jahren zogen die Wurzeln des Kirschbaums sich immer weiter in die Beete hinein, saugten die Kraft aus dem Boden, der doch das Gemüse nähren sollte, und verbogen die Rüben zu bizarren Gestalten. Er nahm sich vor, endlich den Kirschbaum zu entfernen und einen Flieder zu setzen. Dann stach er den Spaten noch einmal kräftig in den Boden. Auf die Wurzeln musste er ja nun keine Rücksicht mehr nehmen.
Er fertigte in Gedanken die Einkaufsliste fürs Gartencenter an, als es klingelte. Vor einer Wohnungstür standen sechs Elektrotechniker, ein Jurist der Germanet AG und zwei Polizeibeamte. Die Beamten klärten Schröder darüber auf, dass er vor wenigen Minuten einen Schaden in Millionenhöhe verursacht habe. Er sei durch die Überlassung einer Transfertrasse durch sein Grundstück verpflichtet, Abstand zu dem Kabel zu halten.
Schröder erinnerte sich an keine Überlassung. Dort hinten befinde sich nichts als sein Rübenbeet.
Der Jurist erläuterte Schröder, dass man ihn für das mutwillig zerstörte Datenkabel in voller Höhe haftbar machen würde.
Schröder räusperte sich. „Ich möchte einen Anwalt sprechen“, sagte er.

Donnerstag, 7. April
Auf dem Weg in den Hobbyraum bemerkte Schröder an der Wand des Kellerflurs ein Kabelrohr, das ihm noch nie zuvor aufgefallen war. Es tauchte über der Tür zum Garten auf, zog sich in gerader Linie unter der Decke entlang und endete ohne Anschluss vor dem Durchgang zum Heizungsraum. Das Kabelrohr war in englischer Sprache beschriftet. Schröder sprach kein Englisch. Er nahm sich vor, auf der nächsten Sitzung des Briefmarkenclubs mit Keiler zu sprechen, der Elektriker war.
Der Tresor im Hobbyraum war hinter einer Lage Setztöpfe verborgen und enthielt Unterlagen über Aktien, Pfandbriefe und Inhaberschuldverschreibungen, die Schröder als Altersreserve hielt, sowie ein stattliches Barvermögen für alle Fälle. Vor wenigen Minuten waren die Forderungen der Germanet AG per Einschreiben gekommen. Ein Anwalt würde Geld kosten.
Als er in den Keller zurückkehrte, führte das Kabelrohr zur Wand des Heizungsraums und verschwand darin. Ein paar Betonkrümel lagen darunter auf dem Boden. Schröder hob einen auf und drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern.

Mittwoch, 13. April
Schröder stellte das Gemüse für das Mittagessen in die Mikrowelle. Dort überraschte ihn die Anzeige des Geräts mit einer ihm unbekannten Meldung. »eth0«, las er und fragte sich, ob das Gemüse wohl auch mit diesem Programm zufriedenstellen garen würde. Ein ihm unbekanntes Kabel führte von der Rückseite der Mikrowelle aus senkrecht nach oben zu einer Verteilerbuchse mit der Aufschrift »Germanet AG«, die hinter den Konservendosen an der Rückwand des Einbauhängeschranks montiert war. Weitere Kabel verließen die Verteilerbuchse in Richtung Wohnzimmer, Gäste-WC und Obergeschoss.
Er riss an einem der Kabel, erinnerte sich an den Juristen der Germanet AG und ließ das Kabel, wo es war.

Sonntag, 17. April
Schröder wurde von seinem Neffen informiert, dass man Bilder von ihm auf einer öffentlich zugänglichen Website gefunden habe. Er solle etwas vorsichtiger mit seiner Privatsphäre umgehen, anstatt unreflektiert solche seltsamen Dokumente zu veröffentlichen, schlug der Neffe vor. Auf Schröders Nachfrage, um welche Bilder es sich denn handle, zögerte der Neffe. Schließlich erklärte er, Schröder sei nackt abgebildet. Beim Duschen, auf dem WC. Solche Dinge. Ob er die Webcam seines PCs nicht abgeschaltet habe?
Schröder besaß keinen Computer.

Montag, 18. April
Der Wecker rasselte um fünf Uhr morgens. Schröder stand auf und wusch sich kalt in der Spüle der Küche, da seit dem Vortag kein warmes Wasser mehr kam. Dabei fiel ihm ein Kabel auf, das sich quer über das Küchenfenster zog. Der Terrier winselte, doch die Kabelspirale, die seinen Fressnapf mit einem Flechtmuster bedeckte, ließ jeden Versuch scheitern, an das Trockenfutter zu gelangen. Eine Würgeschlange aus PVC wand sich um den Boiler, dessen Hülle sich unter dem Würgegriff der Kabel verbeulte.
Schröder riss systematisch alle Kabel von den Wänden, die nicht aussahen wie gewöhnliche Stromleitungen. Dazu musste er sich seines Stemmeisens, der Rohrzange und einer ausgeklügelten Vorrichtung aus Seilzügen bedienen. Er schätzte, dass er einen halben Zentner Gips brauchen würde, um die größten Löcher in den Wänden wenigstens einigermaßen zu füllen. Mit einem Bolzenschneider zerteilte er die Kabel in halbmeterlange Stücke, bis ein großer Haufen die halbe Küche füllte. Den trug er in den Garten, um ihn später zu verbrennen, Umweltschutz hin oder her. Schröder musste zweimal gehen. Als er zum zweiten Mal in den Garten kam, war der erste Kabelhaufen verschwunden und das Staudenbeet neben der Terrasse sah aus wie von Wildschweinen durchwühlt.

Donnerstag, 21. April
Das Einschreiben der Germanet AG wies Hermann Schröder darauf hin, dass er für die erneute Unterbrechung des Backbone der Germanet in vollem Umfang haftbar gemacht würde. Man riet ihm, den Verkauf seines Elternhauses in Erwägung zu ziehen, da er so mehr erlösen könne als durch eine Zwangsversteigerung. Für den Wiederholungsfall werde man – erneut – Strafanzeige stellen. Er müsse mit einer mehrjährigen Haftstrafe rechnen, da er durch sein Verhalten auch die Patienten auf der Intensivstation eines durch die Germanet AG vernetzten Krankenhauses in Gefahr gebracht habe.
Schröder vermisste seinen Terrier.

Samstag, 23. April
Hermann Schröder telefonierte mit einem Kammerjäger.
Um welchen Schädlingsbefall es sich denn handle, fragte der. Vorratsschädlinge, Bettwanzen, Kakerlaken –
»Um Kabel«, erwiderte Schröder.
Nach kurzem Disput beendete der Kammerjäger das Gespräch.
Schröder erwog, Kontakt zu einem lokalen Heimatschutz-Club aufzunehmen, von dem er in der Tagespresse gelesen hatte. Die Männer trainierten in einer stillgelegten Kiesgrube für einen nicht näher definierten Ernstfall. Mit Blick auf die Nachbarn, die seit dem Polizeibesuch im Haus verschwanden, sobald er vor die Tür trat, nahm er von dem Plan Abstand.

Montag, 25. April
Das neueste Einschreiben der Germanet AG informierte Schröder, dass der Schaden, der vor einer Woche durch seinen erneuten mutwilligen Angriff auf das Backbone-Kabel der Germanet entstanden war, rund 22 Millionen Euro betrug, und setzte als Zahlungsziel den ersten Mai. Schröder warf den Umschlag achtlos zu Boden, wo er zwischen armdicken Kabelsträngen verschwand, die in mehreren Lagen übereinander den Boden des Windfangs bedeckten und die Haustür blockierten. Nach kurzer Überlegung warf er den Brief hinterher, der unbehelligt auf den Kabelsträngen liegenblieb.
Als Schröder sich ins Wohnzimmer begeben wollte, um seinen Anwalt anzurufen, hatte sich sein linker Fuß in einer Kabelschlinge verfangen und war auch durch heftiges Reißen nicht zu befreien. Während er noch seinen Fuß anstarrte, legte sich eins der Kabel gemächlich um sein rechtes Bein.
Schröder lauschte auf das Scharen ringsumher, wie Schlangenhaut auf trockenem Laub.