© by Michael Knabe
© by Hybrid Verlag, Homburg
Umschlaggestaltung: © 2018 by Andrea Gunschera
Lektorat: Donatha Czichy, Tatjana Reiber
Korrektorat: Nola Reiber
Buchsatz: Sylvia Kaml
Shevon al Yontar schob sich durch das Gewimmel der Großen Tempelstraße. Pilger zerquetschten die Falten seiner Toga, bis nur eine chaotische Knitterlandschaft übrigblieb. Ein Fremder schmiegte sich geradezu an ihn. Shevon fluchte und stieß den Mann von sich, bevor dieser nach seinem Geld angeln konnte. Warum hatte ihm sein Vater auch keine Wachen mitgegeben!
Sklaven, Lastenträger, Sendboten, Straßenverkäufer, Bettler, Stadtwachen und unzählige Besucher des Frühlingsfestes drängelten sich zwischen den Mauern, die zu beiden Seiten die Große Tempelstraße begrenzten. Morgen, wenn das Fest wirklich begann, würde es überhaupt kein Durchkommen mehr geben. Der Gestank der Opferfeuer zog vom Tempel herab und hing wie eine erstickende Decke über dem Senatorenviertel.
Der Finstere Fährmann sollte die Pilger holen! Sie schissen in die Gosse, prügelten sich in den Tavernen und schliefen auf den Straßen ihren Rausch aus. In diesen Tagen stand immer die doppelte Anzahl Wachen vor den Mauern der al Yontars, damit der Pöbel nicht das Anwesen stürmte.
Vater schien das nicht zu stören. Er hätte die Festtage in seiner Sommerresidenz am Meer verbringen können oder in der Jagdhütte oben in den Bergen. Stattdessen verschanzte er sich hinter den Mauern seiner Stadtvilla und schickte seinen Sohn allein ins Getümmel, um Klienten vor Gericht zu vertreten.
Sollte er doch denken, dass er die Menschen um sich herum vollständig im Griff hatte! Eines Tages würde Shevon das alles hier hinter sich lassen.
Sein großer Traum. Sein heimlichster Wunsch. All die Ränke der Patrizier ignorieren und einfach in die Welt hinausziehen. Er würde die bunten Ziegel des sabinoischen Königspalastes in der Sonne
glänzen sehen, endlich wieder einmal die freien Königreiche besuchen und vielleicht sogar den Basar von Chean-Al weit hinter den östlichsten Provinzen der Republik.
Nichts als Träume. Solange Vater lebte, musste Shevon folgen, wo auch immer ihn sein Vater hinbefahl. Vorletztes Jahr war er nach Falun abkommandiert worden, Cadrons neuester Eroberung im Namen Levanons. Dort hatte es in einem Jahr mehr geregnet als auf Levanon in seinem ganzen Leben. Reisen auf Vaters Befehl oder in Raydur alt und grau werden – so sahen die Alternativen aus. Die Toga der Senatoren, die in ein paar Jahren auf ihn wartete, wirkte in Momenten wie diesem eher wie das Gewand eines Sträflings, der für den Rest seines Lebens in die Steinbrüche geschickt wurde.
Shevon stieß einen Straßenverkäufer von sich, der ihm mit einem Becher heiligen Wassers vor dem Gesicht wedelte. Eine bräunliche, von Flussschlamm durchsetzte Brühe ergoss sich über seine Toga.
Aufdringliches Gesindel! Gleich konnte er Lärm und Gestank endlich hinter sich lassen und den Erzählungen Meron al Andres lauschen. Der Freund der Familie lebte seit Jahren in Sabinon und
hatte immer etwas aus dem Land des Erzfeindes zu berichten. Nicht einmal Vater konnte verhindern, dass Shevon dann in Gedanken nach Sabinon reiste. Keine hundert Schritte mehr bis nach Hause.
Shevon kniff die Augen zusammen. Irgendetwas da vorne stimmte nicht.
Eine Abteilung Bewaffneter kam vom Tempel herab und machte vor Vaters Villa Halt. Empfing er einen weiteren Besucher? Nein, das waren nicht die üblichen zwei, drei Leibwächter, wie sie jeder Senator in diesen Tagen um sich scharte, sondern mindestens dreißig Männer in der Ausrüstung und Bewaffnung der Legionen. Sie formierten sich Rücken an Rücken zu einer doppelten Mauer aus Stahl. Pilger drängten sich in respektvollem Abstand vorbei.
Ein ungutes Gefühl machte sich in Shevons Magengrube breit.
Er beschleunigte seine Schritte. Wer versuchte da die al Yontars zu provozieren? Sein Vater war einer der mächtigsten Männer der Republik. Niemand behelligte ihn oder seine Familie ungestraft.
Niemand außer …
Er vermied es, den Gedanken zu Ende zu denken.
Die Soldaten ließen eine Lücke für ihren Herrn frei. Er studierte das Tor der al Yontars und ließ Shevon Zeit, die Wachen einzuschätzen. Kräftige Burschen waren das, mit finsterem Blick, die aussahen wie aus den Hafenkneipen von Gurud im Süden. Sie bestätigten Shevons schlimmste Befürchtung: Al-Gired-Söldner.
Der Feind seines Vaters war zurück.
Mit klopfendem Herzen betrat Shevon den freien Raum zwischen Passanten und Soldaten. Die Leute blieben stehen und stemmten sich gegen den übrigen Pöbel, der von hinten schob. Ein bewaffneter Konflikt auf der Hauptstraße versprach gute Unterhaltung.
Shevon setzte eine gelangweilte Miene auf. »Ich weiß, wir haben ein wunderschönes Tor. Seine zweitwichtigste Funktion ist es übrigens, die Bewohner durchzulassen. Wenn Ihr so freundlich wärt?«
Keiner von ihnen rührte sich. Shevon unterdrückte den Impuls, den Schweiß von der Stirn zu wischen.
Zweiter Versuch. »Lasst mich durch, oder muss erst die Wache meines Vaters euch beibringen, wie man sich in der Hauptstadt angemessen verhält?«
Noch immer rührte sich keiner der Soldaten, aber hinter ihnen reckte sich Gabul, der Hauptmann der Familiengarde. »Herr, lässt Euch dieser Abschaum nicht durch?«
»Es sieht ganz danach aus. Sie müssen etwas an den Ohren haben. Sag mal, können diese Gurud-Fischer überhaupt Levanisch?«
»Wer weiß? Aber das haben wir gleich.« Ein Wink des Hauptmanns und sein Läufer verschwand durchs Tor. Gebrüllte Befehle und das Trappeln vieler Füße klangen heraus. Mehr und mehr Wachen strömten durch das Tor.
Aber was sollte Gabul schon tun? Die Belagerung mit Stahl durchbrechen? Ein Blutbad am Vorabend des Frühlingsfestes, auf der Straße zum Tempel würde der Senat nicht einmal Vater durchgehen lassen. Gabul müsste seine Wachen verdoppeln, nach dem Senator rufen lassen und abwarten.
Vielleicht spekulierte der Herausforderer sogar genau darauf. Kein ungeschickter Spielzug: Entweder machten sich die al Yontars unmöglich oder sie wirkten schwach.
Endlich kam Bewegung in den Anführer der Eindringlinge, der die ganze Zeit reglos auf das Tor gestarrt hatte. So langsam wie die Flügel eines Burgtors drehte er sich um und musterte Shevon, dem sich der Magen zusammenkrampfte.
Vor ihm stand der größte Feind der Republik.
Nuridor al Gireds Haupthaar hatte in den Jahren seiner Verbannung den Kampf gegen die Stirnglatze verloren. Sein Schädel sah aus wie ein Dreieck, das man auf die Spitze gestellt hatte. Er wirkte zu groß für das verkniffene Gesicht, das schief daran befestigt schien. Das einzig Lebendige in Nuridors Gesicht waren die Augen, die Shevon voller Verachtung musterten.
»Cadrons Küken. Unverkennbar aus dem gleichen Stall.« Nuridors lederartige Augenlider erinnerten an eine Schildkröte. »Der sieht nicht aus, als ob er Schwierigkeiten machen kann.« Und zu seinem Hauptmann, der neben ihm wartete: »Ist der Läufer aus dem Tempel zurück?«
»Wir erwarten ihn jeden … Da kommt er, Herr.«
Ein Soldat in Helm, Armeetunika und Rüstung kam die Tempelstraße herabgelaufen. Sein Mantel wehte hinter ihm her. Wer nicht schnell genug auswich, wurde von seinem Brustpanzer aus dem Weg gestoßen. Als er vor Nuridor salutierte, lief dem Soldaten Schweiß übers Gesicht. War er den ganzen Weg vom Tempel herab gerannt?
»Welche Neuigkeiten bringst du?« Nuridors Gesicht blieb unbewegt.
»Botschaft von unserem Kontakt, Herr. Die Zeichen sind eindeutig. Wir sollen noch heute aufbrechen.«
Eine nachlässige Handbewegung Nuridors schickte ihn zurück ins Glied.
Shevons Wut gewann Oberhand über seine Furcht. »Kaum aus der Verbannung zurück und schon auf Ärger aus! Soll ich dir schon einmal eine nette Insel aussuchen für die nächste Verbannung?
Oder brauchst du auch ein Plätzchen für deinen Kontakt?« Er äffte den Tonfall des Boten nach.
Nuridor beobachtete ihn wortlos, aber in seinen Mundwinkeln zuckte es. Die Soldaten zu seiner Seite legten wie ein Mann die Hand ans Heft des Kurzschwertes. Das uniforme Knallen ihrer Armreifen
auf den Eisenspangen der Rüstung klang, als ob eine gut geölte Apparatur bedient wurde. Eine Mordmaschine.
Sie würden doch nicht …? Unwillkürlich trat Shevon einen Schritt zurück. Ein Passant rempelte ihn an und ließ ihn auf würdelose Weise stolpern.
Nuridor beobachtete reglos die kleine Szene und überließ es seinen Soldaten, ihn vor den Wachen der al Yontars abzuschirmen, die aus dem Tor strömten. Wie erwartet, standen die Männer seines Vaters hilflos da. Shevon war allein. Verdammt, wo blieb sein Vater?
Nuridors Blick glitt an ihm herab. »Reden können sie wie die Waschweiber, die al Yontars, und sonst nichts. Ein Frosch gebiert eben immer nur den nächsten Frosch.«
Shevon schnappte innerlich nach Luft. Wusste Nuridor, was das Bild für ihn bedeutete?
Er zementierte mühsam ein Lächeln auf sein Gesicht. »Du suchst Frösche? Geh drunten im Flussschlamm nach ihnen wühlen, anstatt ehrbare Leute zu belästigen. Und jetzt …« Er machte einen Schritt auf Nuridor zu und hob die Hand. Instinktiv traten die Söldner, die ihn flankierten, vor ihn und zogen die Waffe. Shevon wand sich mit einer schnellen Drehung durch die Lücke, die ihre Bewegung in der Verteidigungslinie aufgerissen hatte. Das Letzte, was er von Nuridor sah, war dessen hochgezogene Augenbraue, dann schlug das Tor hinter ihm zu und der Lärm der Tempelstraße blieb draußen zurück.
Er atmete tief aus. Erst jetzt spürte er die Verkrampfung in Armen und Beinen. Der Vorfall hätte auch anders ausgehen können.
Gabul trat vor ihn und salutierte. Der Hauptmann blickte auf Shevons Sandalen, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Herr.« Und nach einer Pause: »Die Wache hat versagt.«
Abwesend winkte Shevon ab. »Unsinn. Was hättest du auch tun sollen? Ein Blutbad anrichten?«
»Aber …«
»Warum ist mein Vater nicht erschienen? Er hätte Nuridor etwas entgegensetzen können!«
Tiefe Röte überzog das Gesicht des Hauptmanns. »Ich habe ihn rufen lassen, Herr!«
»So? Und was hat der Senator geantwortet?«
»Er wollte seinem Gegner nicht auch noch die Ehre eines Gesprächs gewähren und war überzeugt, dass Ihr Euch allein helfen und die Blockade durchbrechen könnt.«
Der Hauptmann hatte immer leiser gesprochen. Shevon versuchte vergeblich, den Stein in seinem Magen zu ignorieren. Was wäre passiert, wenn Nuridors Soldaten sich nicht so einfach hätten übertölpeln lassen? Hätte Cadron al Yontar dann achselzuckend registriert, dass sein einziger Sohn leider auf dem Straßenpflaster verblutete?
Noch unverständlicher war nur der bizarre Auftritt Nuridors. Das Familienoberhaupt der al Gireds tat nie etwas zum Vergnügen. Wenn er am Frühlingsfest vor der Villa seines Erzfeindes auftauchte, verfolgte er einen Plan. Vielleicht wollte er mit seinem Erscheinen nur Unruhe verbreiten. Oder …
Achselzuckend wandte Shevon sich ab. Vater würde eine Erklärung haben. Vater hatte immer eine Erklärung.
Aber das ungute Gefühl blieb.
Senator Cadron al Yontar hatte mitten in der quirligen Stadt eine Oase aus Stille und Weite geschaffen. Vor Shevon fiel das Grundstück zum Fluss hin ab. Eine Schar Sklaven reinigte auf Knien die Marmorplatten der Auffahrt, die sich um den Vorgarten zur Villa hinabzog.
Ein Sklave eilte herbei und half ihm aus Toga und Sandalen, ein weiterer brachte eine frische Tunika und eine Schüssel mit Rosenwasser.
»Wo ist mein Vater?«
»Der Herr aus Sabinon ist noch bei ihm, Herr. Soll ich Euch anmelden, Herr?«
»Nein, das ist nicht nötig.«
In einer Tunika, die dezent nach Blüten duftete, betrat Shevon den Kiesweg, der sich durch das Rondell schlängelte. Unermüdlich blubberte und plapperte der Brunnen vor sich hin und füllte den künstlichen Bach, der in seinem Marmorbett auf das Haus zufloss. Zwischen den Villen weiter unten am Hang glitzerte das Band des An Dureth in der Sonne. Auf der anderen Seite des Flusses thronte das Zentrum Raydurs. Die Unwetter der vergangenen Tage hatten die Luft so rein gewaschen, dass die Kuppeln des Senats und des Gerichts zum Greifen nahe schienen. Gegen den heiligen Berg Bal Sharman dahinter wirkten sie wie Kinderspielzeug. Die gigantische Scherbe aus Stein beherrschte das Seitental hinter Raydur und ließ die übrigen Gipfel der Balin Giôrad zu Zwergen schrumpfen. Sie sah aus, als hätte ein urzeitlicher Gott das Gebirge mit einem Steinmesser zerteilt und dann sein Werkzeug einfach stecken lassen. Ihr Schatten wanderte über Raydur wie der Zeiger einer riesigen Sonnenuhr.
Seine Heimat. Die schönste Stadt der Welt – und sein Gefängnis, das ihn mit unsichtbaren Fesseln band.
Er warf einen Blick auf die Sonnenuhr, die sein Vater letztes Jahr hatte anfertigen lassen. Das erigierte Glied des Tanzenden Gottes zeigte die Stunde vor dem Mittag an.
Bei Sonnenaufgang war die Welt noch in Ordnung gewesen. Jetzt hing Nuridors Blick wie ein dunkler Schatten über der Stadt.
~
»… und kaum ist er wieder da, plant er den nächsten Krieg gegen Sabinon!« Meron al Andres Faust hieb auf das Polster seiner Liege.
Shevons Vater hob den Blick nicht von dem Dokument vor sich. »Er plant nicht nur, er bereitet ihn längst vor. In seinen Werften herrscht nicht einmal an den Feiertagen Ruhe. Aber solange ich Zensor bin, wird der Senat einem Staatsverräter nicht einen Goldlevany für seine Legion auszahlen!« Und in Shevons Richtung: »Du bist spät.«
Das war alles? Vater ließ ihn allein gegen die Soldaten eines Staatsverräters antreten und beschwerte sich dann, dass er zu spät kam? Sprachlos stand Shevon da.
»Was ist passiert?« Merons Wanst hing über den Rand der Liege wie Sauerteig, der aus der Schüssel gequollen war, doch seine Augen musterten Shevon aufmerksam. »Ist dir der Finstere Fährmann
begegnet?« Sein Akzent hatte sich in den letzten Jahren verstärkt. Mittlerweile klang er fast wie ein Sabinoy, der versuchte, Levanisch zu sprechen.
»Der Finstere Fährmann? Er stand vor dem Tor und starrte es an, als ob er unsere Villa kaufen wollte.« Hätte er sich doch nur so souverän gefühlt, wie er vorgab. Seine Stimme drohte zu kippen und noch immer fühlten sich seine Beine an wie nasses Leder.
Immerhin: Der Senator blickte von seinem Schriftstück auf und begutachtete ihn. »Fängst du jetzt an, Gespenster zu sehen?«
»Nur Soldaten und Staatsverräter. Und die hilflose Truppe meines Vaters, der es nicht gelang, mir Zugang zu verschaffen.«
Der Senator runzelte die Stirn, aber er ignorierte Shevons Anklage.
»Was ist mit meinem Klienten?«
»Freispruch, Vater. Genau wie ich vorhergesagt hatte. Aber es war nicht billig. Du musst den Gegner verklagen, um dir das Bestechungsgeld zurückzuholen.«
Senator Cadrons Nicken stellte das Äquivalent eines Lobes dar.
»Leg dich zu uns und erzähl, was passiert ist.« Ohne weiteren Kommentar wandte er sich wieder seinem Dokument zu.
Meron fingerte rastlos auf dem Tischchen vor sich hin und her, aber auf den Platten fanden sich nur noch ein paar Olivenkerne.
»Lass mich raten, Junge. Du meldest uns den nächsten Angriff auf die al Yontars.«
»Kein Angriff, lediglich die Machtprobe vor unserem Tor.« Shevon schilderte in knappen Worten die Begegnung mit Nuridor.
Meron verfolgte die Erzählung, ohne ihn zu unterbrechen. Am Ende zog er die Brauen hoch. »Jetzt kommt Nuridor schon selbst, um euch zu verhöhnen. Cadron, du solltest diese Geschichte endlich
ernst nehmen.«
»Ein paar provokante Worte beweisen gar nichts. Wir sollten ihm in der Öffentlichkeit keine Aufmerksamkeit schenken, bis wir etwas gegen ihn in der Hand haben.« Cadron wies Merons Mahnung mit einer abfälligen Handbewegung von sich, aber die Falten auf seiner Stirn vertieften sich weiter.
Fein, dachte Shevon und schwieg. Hätten die Soldaten ihn in Stücke gehauen, dann hätte Vater wohl etwas gegen Nuridor in der Hand.
Meron ließ sich nicht so leicht abspeisen. »Vor elf Jahren hast du nicht auf mich gehört und es wäre beinahe euer Ende gewesen. Jetzt wird es erst recht ernst. Nuridor ist aus der Verbannung zurück und
angriffslustig wie eh und je. Du weißt, wen er als nächstes Ziel auswählen wird.«
»Keiner meiner Spione in seinem Palast hat etwas Verdächtiges beobachtet. Im Gegenteil: Er ist nach Raydur gekommen, um zu beten! Nuridor im Tempel, kannst du dir das vorstellen?«
»Und seine Soldaten vor unserem Tor beten wohl auch alle?«, warf Shevon spöttisch ein.
Meron nickte heftig. »Nuridor betet nicht. Eher macht er aus dem Tempel eine Kaserne. Was ist, wenn er deine Spione längst enttarnt hat und gegen dich einsetzt? Er hatte elf Jahre, um seine Rache vorzubereiten. Du willst einfach nicht wahrhaben, dass der nächste Angriff längst begonnen hat!«
Er mochte sich unbekümmert geben, aber er konnte es nicht verbergen: Meron hatte Angst.
So schnell rissen die Wunden der Vergangenheit wieder auf.
Vor elf Jahren hatte sein Vater sich zum Diktator berufen lassen und Admiral Nuridors Legion in offener Feldschlacht besiegt. Aber anstatt sämtliche al Gireds einen Kopf kürzer zu machen, hatte er Nuridor in die Verbannung geschickt und lediglich seine Anhänger verfolgt. Shevon hatte er auf das Landgut seiner Schwester verfrachtet und es ihm mit fünfzehn Jahren überlassen, mit Nuridors Sohn Regul zurechtzukommen.
Regul. Wie sehr hatte Shevon sich gewünscht, nie wieder an seinen ungleichen Bruder im Geiste zu denken. Mit den ersten Worten hatte Regul ihn damals bedroht und mit den letzten zum Finsteren Fährmann gewünscht. Das verkniffene Gesicht stand ihm vor Augen wie in Stein gemeißelt.
Shevon musterte das Spielbrett auf dem Tisch, um sich von den Erinnerungen abzulenken. Eine halb gespielte Partie Cal-shòn wartete dort auf den nächsten Zug. Doch in der Aufstellung der Angreifer klaffte eine Lücke, groß wie ein Stadttor. Auf der Gegenseite boten sich gleich zwei Möglichkeiten, die Phalanx der Verteidiger zu durchbrechen. Offenbar hatten die beiden Herren über ihrer Diskussion das Spiel vergessen. Shevon schloss mit dem Speerwerfer der Angreifer die Lücke. Das Cal-shòn-Spiel hatte ihm schon immer geholfen, seine Fassung zurückzugewinnen.
Meron griff eine Figur der Verteidiger und verstärkte die Reihen am Tor der aufgemalten Festung. »Was denkst du über Regul?«, fragte er beiläufig.
»Regul?« Shevon hielt inne, die Hand über dem Flügelboten, und versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Er sah auf und fand den Blick seines Vaters auf sich gerichtet.
Auch Meron beobachtete ihn. »Regul ist ebenfalls in der Stadt.«
Nicht über Regul nachdenken. Setz deinen Zug. Die Lücke in Merons Verteidigung lud so eindeutig zum Angriff ein, dass sie nur eine Falle sein konnte. Er blickte hoch, aber das Gesicht des ehemaligen Senators war eine regungslose Maske.
Shevon überging Merons Frage. »Warum bist du eigentlich nie mehr aus Sabinon zurückgekehrt?«
»Neidisch auf meine Reisen? Ich könnte es verstehen, nach deinem Jahr in Falun.« Meron drehte sich zu seinem alten Freund um. »Cadron, du kannst froh sein, dass er dir in dem Drecksloch nicht elend am Fieber verreckt ist.«
»Der Junge hält mehr aus, als du denkst.«
Meron lachte. »Junge? Dein Sohn ist längst ein Mann geworden. Gib es zu, seit er Falun auf Vordermann gebracht hat, fließt mehr Silber in deine Tasche, als du ausgeben kannst! Du könntest ihm ruhig etwas mehr Anerkennung zeigen.« Und zu Shevon: »Ich wette, seither träumst du von einem Land, das von der Sonne versengt wird.«
Shevon schwieg. Seine Träume gehörten ihm allein.
Wieder lachte Meron. »Ich wusste es! Übrigens bin ich ja zurückgekehrt, wenn auch nur zu Besuch. Und werde dem Sohn meines Freundes eine Lektion im Vergeuden von Chancen geben.« Mit einer nachlässigen Bewegung schob er seinen Flügelboten in die Lücke. Damit war das Spiel so gut wie verloren. Cadron verzog abfällig das Gesicht und nahm sein Schriftstück wieder auf.
Shevon ignorierte den Stein in seinem Magen. »Alle wussten, dass die Anschuldigungen gegen dich haltlos waren.«
»Und warum stand niemand außer deinem Vater für mich auf?«
Wieder antwortete Shevon nicht.
Die Stadt hatte nach Angst gerochen, damals, als Nuridor seine Figuren frei über das Spielfeld zog. niemand traute dem anderen über den Weg. Jeder fürchtete, das nächste Opfer der namenlosen Assassinen zu werden, die die Häuser der Reichen unsicher machten.
Meron fegte Shevons Angriff mit seinem Sturmhaupt vom Brett. »Du warst noch zu unreif, um all die Finten und Gegenfinten zu verstehen. Aber sag mir, junger Schlaukopf, was hättest du an meiner Stelle getan?«
»Um meinen Ruf gekämpft.«
Meron schnaubte verächtlich. »Wie kämpft man gegen unsichtbare Dämonen? Gegen Gerüchte, die auf einmal überall auftauchen? Stell dir vor, alle behaupten, du hättest Richter bestochen.«
»Aber jeder besticht Richter!«
»Als nächstes hörst du, dass du dir angeblich die Söhne deiner Nachbarn ins Bett holst. Auf einmal halten dich alle für ein Schwein.«
»Ich weiß, dass das erlogen war!«
Meron ließ sich nicht unterbrechen. »Aber das ist noch nicht alles. Junge Männer sterben, immer die Erstgeborenen hoher Familien. Und wen bringt man damit in Verbindung? Immer dich. Du sammelst die Mosaiksteine, einen nach dem anderen, legst sie zusammen, und sie ergeben einen Pfeil, der genau auf dich zeigt. Sag mir, Shevon: Wärst du geblieben?« Mit grimmigem Triumph wischte er
die Figuren vom Spielbrett. »Mein Ruf war vollkommen ruiniert. Ich wollte nicht warten, bis ich es selbst war.«
»Aber warum ausgerechnet Sabinon?«
Das klang so halbherzig, wie es sich anfühlte. Hoffentlich ahnte Meron nicht, wie sehr sich Shevon danach sehnte, die bunten Ziegel des sabinoischen Königspalastes in der Sonne blinken zu sehen und die riesigen Prachtstraßen zu durchwandern. Fort von hier! Weg von den strengen Augen seines Vaters, die jede seiner Handlungen überwachten – so wie gerade jetzt. Fort aus Raydur, dessen enges Netz aus Verpflichtungen ihn jeden Tag ein wenig mehr strangulierte.
Meron beugte sich vor, bis sein Bauch ihn auf den Boden zu ziehen drohte. »Die Söhne seiner Gegner feige zu ermorden, fiele keinem Sabinoy ein. Das, mein junger Freund, ist aus deiner Heimat geworden!« Und nach einer Pause: »Eure Familie hat Nuridor damals nicht erwischt. Knapp. Wenn ihr dieses Mal nicht handelt, seid ihr die ersten, die fallen. Entweder dein Vater besiegt ihn endgültig oder Regul schleift dich an den Eiern durch die Straßen.«
Regul. Da war es wieder, das verkniffene Gesicht mit der Narbe, die Shevon ihm beigebracht hatte. Augen, die in einem Moment gleichgültig dreinsehen und im nächsten puren Hass versprühen konnten.
Ein Klumpen aus Stein zog Shevons Magen nach unten. Stumm musterte er Meron.
Cadron schwieg ebenfalls. Das Dokument lag vergessen vor ihm auf der Liege.
Die Ankunft eines Sklaven beendete den Moment der Stille. Shevon hatte den Jungen noch nie gesehen.
»Herr! Herr! Senator! Sie haben …«
Der Sklave fing den strafenden Blick seines Herrn auf. Erschrocken neigte er den Kopf und wartete auf Erlaubnis zu sprechen.
»Was bringst du?«
»Es geht um Talyon, Herr.« Schon machte der Sklave wieder große Augen. »Man hat ihn verhaftet, Herr! Wegen Gewalt gegen einen Bürger!«
Der Senator holte hörbar Luft. Die Adern auf seiner Stirn traten hervor. »Bei allen Göttern, nimm das bisschen Hirn zusammen, das sie dir zugestanden haben, und berichte, was geschehen ist!« Die gepresste Stimme verriet seine Anspannung.
Der Sklave schluckte. »Ja, Herr. Sie haben uns aufgelauert und beschimpft. Dann haben sie angefangen, uns herumzuschubsen. Einer hat Talyon ins Gesicht geschlagen. Als der die Hand vors Gesicht nahm, um sich zu schützen, haben sie ihn gepackt, wegen Angriffs auf einen Bürger. Sie haben ihn verprügelt, bis er sich kaum noch rühren konnte, und dann haben sie ihn zum Gericht geschleift. Herr, sie wollen ihn steinigen lassen!«
Shevon schluckte.
Talyon, der oberste Haussklave, hatte Shevon die ersten Buchstaben beigebracht und später seine Heimatsprache Sabinoisch. Wenn es einen Menschen gab, dem er vertraute, dann Talyon. Und jetzt
drohten ihm ein Schnellverfahren und die Steinigung.
Der Angriff hatte begonnen.
Meron wuchtete sich in eine sitzende Position. Sein Gesicht war tiefrot. »Wer hat das getan?«
Der Junge rang verzweifelt die Hände.»Ich kenne sie nicht, Herr!«
»Wie sah er aus?«
»Es waren viele … Fünf, glaube ich. Einer sehr groß, mit glatten Haaren bis zur Schulter.«
Shevon und sein Vater wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf. So jemanden kannten sie nicht.
»Der Anführer war breit gebaut, mit einem Kopf fast wie ein Dreieck. Er hatte eine Narbe auf der Wange, so!« Sein Finger zeichnete eine Linie von der Schläfe bis zum Kinn.
Shevons Magen zog sich zusammen. Unwillkürlich blickte er auf seine Rechte, die damals den Griffel gehalten hatte.
»Das ist Regul.«
Meron saß auf seiner Liege, den Blick auf sein Glas gerichtet. Schweiß stand auf seiner Stirn und unter der Sonnenbräune wirkte sein Gesicht grau. »Genauso hat es damals angefangen.« Ächzend stemmte er sich hoch und ging im Raum umher. »Du musst etwas tun, Cadron. Jetzt.«
Der Senator richtete sich auf. Sein Gesichtsausdruck wirkte kalt und hart, wie in Stein gemeißelt.
»Sklave!«
Einer der Jungen vor der Tür stürzte herein und neigte den Kopf.
»Hol Gabul.«
Der Sklave verschwand.
Cadron räusperte sich umständlich. »Shevon, du gehst zurück zum Gericht. Sie werden versuchen, Talyon vor dem Frühlingsfest
zu verurteilen. Du musst ihn um jeden Preis freibekommen. Warte!« Er schwang sich von seiner Liege, verschwand aus dem Zimmer und kehrte mit zwei Beuteln zurück. »Der Richter bekommt fünfzig
Goldlevanyi. Wenn er mehr fordert, versprichst du ihm auch das. Du wirst Talyon freibekommen, koste es was es wolle. Nimm dir zwei von Gabuls Männern mit. Für den Rückweg schicke ich dir eine Es-
korte. Hast du verstanden?«
»Ja, Vater.«
Der Hauptmann trat ein und salutierte. »Herr.«
»Was ist am Tor los?«
»Sie sind abgezogen, Herr. In Richtung Tempel. Ich frage mich, wo sie kampieren. Dort oben gibt es keine Kasernen. Ich habe ihnen zwei Männer hinterhergeschickt.«
»Gut. Mein Sohn braucht ebenfalls zwei deiner Männer.«
Gabul salutierte erneut und verließ den Raum.
»Shevon?«
»Ja, Vater?«
Der Senator baute sich vor ihm auf. »Denk daran: Die al Gireds sind Soldaten, aber keine Redner und schon gar keine Anwälte.« Er packte Shevons Schultern. »Sie bringen fünf Bürger als Zeugen. Aber dein Wort zählt mehr als jeder einzelne ihrer Schläger. Du wirst sie an die Wand reden. Mach sie lächerlich, demütige sie bis ins Mark! Ganz Raydur soll sich von ihnen abwenden und sie meiden wie Aussätzige!« Sein Griff auf Shevons Schulter verstärkte sich.
»Bei den Göttern, du wirst diesem Lumpenpack zeigen, wer in dieser Stadt das Recht vertritt: Die al Yontars, und nur die al Yontars!«
Meron al Andre schnaubte spöttisch.
»Geh jetzt!«
Shevon hastete los.
Den ganzen Weg zurück zur Basilika hatte er Reguls Gesicht vor Augen.
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