Als das Loch ihn verschluckt, wird es schwarz um ihn. Einen endlosen Atemzug lang droht ihn die Panik zu überschwemmen, bis ihm die Sonnenbrille auf seiner Nase einfällt. Er reißt sie von der Nase, wirft sie auf den Beifahrersitz und giert nach dem Licht der Neonröhren, die jetzt in regelmäßigen Abständen die Fahrbahn beleuchten. Normalerweise ist der Anfang des Tunnels taghell ausgeleuchtet. Ein Teil der Lampen muss ausgefallen sein. Kein beruhigender Gedanke, wenn man noch dreißig Kilometer unter Tage vor sich hat und der weiße Fleck im Rückspiegel gerade hinter einer Biegung verschwindet.
Er schaltet das Radio ein, aber der Sender, den er gehört hat, wird nicht über das Tunnelsystem übertragen. Keine Stimme, kein Ton, nicht einmal eine atmosphärische Störung. Aus den Lautsprechern kommt gleichmäßiges Rauschen und verbindet sich mit dem Lärm der Reifen, der von den Betonwänden des Tunnels zurückgeworfen wird. Die verkrampften Finger seiner Hand finden die Schaltwippe am Lenkrad. Wenig später füllen Ambient-Klänge aus dem CD-Spieler den Innenraum des Autos. Er spannt die Finger noch stärker an und löst sie dann mit einer bewussten Willensanstrengung. Spannt und löst die Muskeln der Oberarme. Hebt die Schultern an und lässt sie fallen. Langsam lässt der Krampf in der Bauchmuskulatur nach.
Gelernt ist gelernt.
Er konzentriert sich auf den Wagen vor sich, einen dunkelroten Renault mit Fließheck und französischem Kennzeichen. Auf der Heckscheibe spiegeln sich die Neonröhren der Tunnelbeleuchtung, eine endlose Reihe weißer Striche, wie das Mündungsfeuer eines Raumschiffs aus der Urzeit der Computerspiele. Eine Weile taucht mit jedem Beat der Musik ein neuer Leuchtstreifen auf, bis das Zusammenspiel aus dem Rhythmus gerät. Die Neonröhren folgen einander einen Hauch zu schnell. Er unterdrückt den Impuls, langsamer zu fahren. Der Tunnel ist auch ohne solche Spielchen lang genug.
Da ist die große Biegung. Die Röhre schwingt mit leichtem Gefälle in eine Rechtskurve ein, die endlos scheint, als führe der Tunnel ab hier im Kreis, oder schlimmer: in einer Spirale aus Beton nach unten, immer tiefer in das Gebirgsmassiv hinein. Einen Augenblick bedrängt ihn die Vorstellung eines riesigen Abgrunds, der plötzlich vor ihm auftaucht, eine nachtschwarze Leere, in die das Auto, sich haltlos überschlagend, hinabstürzt.
Unsinn. Er drängt die Vorstellung zurück und achtet auf andere Rhythmen, auf den Pulsschlag des Tunnels. In regelmäßigen Abständen leuchten grüne Hinweisschilder auf, die den Weg zum jeweils nächsten Rettungsraum markieren. Zum ersten Mal fallen ihm die Entfernungsangaben darauf auf: einhundertfünfzig Meter nach vorn, fünfzig nach hinten. Grün lackierte Stahltüren. Wohin sie wohl führen? Ein anderer Tunnel, eine dritte Röhre zwischen den beiden für den Autoverkehr? Oder lediglich ein Bunker ohne Fluchtmöglichkeit, so glatt wie ein Würfel von innen, sechs Seiten Stahlbeton, mit einem Telefon ohne Tastenfeld? Er wird es nicht herausfinden. Es wäre Wahnsinn, hier im Tunnel zu halten. Es ist Wahnsinn überhaupt hineinzufahren.
Da, am Ende der Kurve: Die nächste Wegmarke. Halbzeit.
Genau hier war es damals, als sich die Panik auf ihn stürzte wie eine Eule auf eine Maus. Lautlos kam sie angeflogen, bis sie ihn sicher in den Krallen hatte. Zuerst das Sausen in den Ohren, leise erst und dann immer lauter. Der Versuch, nach Luft zu schnappen. Der Schwindel, der ihn gegen die Betonwand zu steuern drohte. Raus hier! Er hatte Vollgas gegeben, neben sich Ullas Kreischen, hinten die weinenden Kinder, und vor ihm fünfzehn Kilometer Neonlicht und Stahlbeton und die Vorausfahrenden, die den Weg zur Rettung blockierten. Bis heute weiß er nicht, wie er aus dem Tunnel herauskam und warum ihm das überhaupt passiert ist. Wie oft ist er seither hier durchgekommen, geschäftlich oder auf dem Weg in den Urlaub? Er hat nicht mitgezählt. Er hat sich verboten, sich von diesem Ungetüm aus Stahlbeton in den Wahnsinn treiben zu lassen. Er fährt rein, er fährt durch, fertig.
Der rote Renault passiert bereits die nächste Kurve. Das Mündungsfeuer auf seiner Heckscheibe ist kaum noch zu erkennen. Jetzt verschwindet hinter der Biegung. Ein Bassriff pumpt rhythmisch aus den Lautsprechern in der Heckkonsole, die Musik oszilliert zwischen zwei leeren Akkorden. Im Rückspiegel leuchten die Scheinwerfer der nachfolgenden Autos. Durch die Lüftung dringt Abgasgeruch. Beim nächsten Check muss das geprüft werden. Wozu gibt es eine Umluftschaltung, wenn trotzdem Kohlenmonoxid hereindrückt? Wieder drängt sich ihm die Vorstellung auf: Er und sein Auto in einem fadendünnen Loch voller giftiger Gase, und rundherum, in absolut jeder Richtung: Fels. Nichts als Kalk, Granit, Gneis, weiß der liebe Himmel was noch.
Nicht daran denken. Lieber daran, was das eigentlich für ein Wunder ist, dass man durch so ein Monster von Berg einfach ein Loch bohren kann. Das Ganze mit Stahlbeton ausgekleidet, ein paar Ventilatoren und Neonröhren aufgehängt – fertig. Internet? Raumfahrt? Spielereien. Beton und Neon, das sind die wahren Götter der Neuzeit.
Es hilft. Er wird ruhiger. Noch zwei-, dreimal die Schultern hochziehen und fallen lassen, bis er den Atem wieder unter Kontrolle hat.
Da ist sie. Vor ihm taucht die Doppelreihe der Neonröhren auf, die das Ende des Tunnels ankündigt. Das An- Aus der Beleuchtung verwandelt sich in einen pulsierenden Lichtstrom. Die Pupillen ziehen sich schmerzhaft zusammen, als aus zwei Lichtreihen vier werden, dann sechs. Frische weiße Farbe bedeckt die Betonwand und reflektiert das Streulicht der Scheinwerfer. Eine letzte Kurve. Vor ihm taucht, schmerzhaft weiß, das Ende des Tunnels auf, wächst ihm entgegen, bis es ihn umfängt und das Dämmerlicht zusammen mit dem Reifengeräusch hinter ihm zurückbleibt. Den Straßenrand säumen trockene Büsche, zwischen denen er Felder und weiße Häuser sieht. Vor ihm fällt das Land in Wellen nach Süden ab. Mit zusammengekniffenen Augen tastet er nach der Sonnenbrille.
Beton und Neon sind Götter. Aber das hier, das ist das Leben.